Der Regisseur Christian Petzold ist einer der bekanntesten Vertreter der "Berliner Schule", die dem deutschen Autorenfilm zu Beginn der 2000er-Jahre neue internationale Anerkennung verschafft hat. Seit seinem Kinodebüt , erkunden seine Filme immer wieder historische Übergangszonen, in denen die Figuren wie Geister agieren und zugleich ganz real erscheinen. Petzolds Kinofilme haben zuletzt mit dem Drama in die späte DDR und mit ins Nachkriegsdeutschland geführt. Mit Zum Filmarchiv: "Transit" nach dem gleichnamigen Exilroman von Anna Seghers hat Petzold nun einen unerwartet gegenwärtigen Film gedreht, der sich gegen die Historisierung der Vergangenheit entscheidet.

Herr Petzold, Sie haben die Geschichte von Anna Seghers’ Roman "Transit" aus den 1940er-Jahren in die Gegenwart verschoben. Wie kam es zu dieser Idee?

Für mich ist jeder Film gegenwärtig, auch wenn er in der Vergangenheit spielt. Die Flüchtlinge, die 1940 vor den Nazis flohen und in den Hafenstädten Casablanca, Marseille oder Lissabon festhingen, korrespondieren mit den Menschen, die aktuell auf der Flucht sind.

Um diese Gleichzeitigkeit zu verdeutlichen, haben Sie den historischen Romanstoff in das Marseille von Heute verlegt?

Ja, das Gegenwärtige und das Vergangene sind gleichzeitig da. Das trifft auf die Geschichte der Flüchtlinge im Film zu, aber auch auf die Stolpersteine in den Berliner Straßen, die heute von den Deportationen in die nationalsozialistischen Vernichtungslager erzählen.

Welchen Zugang hatten Sie zur Geschichte, die der Roman erzählt?

Die Menschen in "Transit" sind auf der Flucht vor den Faschisten. Sie warten auf ihre Passagen, auf ein Transitvisum. In dem Roman von Anna Seghers, der ja eine Art Entwicklungsroman ist, bekommt der Held, der keine eigene Erzählung zu haben scheint, erst dadurch, dass er ein Roman-Manuskript findet, Eintritt in eine Geschichte. Er erinnert sich damit einerseits selber an seine Vergangenheit – und findet dann darüber eine Liebesgeschichte in Marseille. Erst die gibt ihm die Identität, nach der er eigentlich sucht.

"Transit" meint auch den Übergangsraum, in dem die Figuren stecken. Die Autorin, die sich selber in einer ähnlichen Zwangslage befand, hat einen männlichen Helden gewählt, um davon zu erzählen.

Die Frage ist interessant, warum Seghers aus einer männlichen Perspektive schreibt. In diesem Transitraum Marseille steckte sie in den 1940ern als Geflüchtete ja selber mit ihren Kindern fest. Sie war in einer prekären Situation, es ging um Leben und Tod, darum die Kinder zu beschützen. Ich denke, sie erschreibt sich einen Mann, in den sie ihren Humor, ihre Sprachgewalt, ihren Lebensspaß, aber auch ihre Musikalität und ihre Sehnsüchte transportieren kann. Er sagt: "Ihr langweilt mich, ihr nervt mich." Er ist ein Schelm, gegenwärtig, lebenslustig. Er hat keine Vergangenheit und eine Zukunft hat er auch nicht. Erst als er diese Frau, Marie, kennenlernt, erinnert er sich, wie er einmal gewesen sein könnte – und hat ein Ziel in der Zukunft.

Ihr Filmstoff steht auch in einer Beziehung zum Hollywood-Kino der 1940er-Jahre, zu Klassikern wie Zum Filmarchiv: "Casablanca", die von ähnlichen Fluchtbewegungen erzählen.

"Das siebte Kreuz" ("The Seventh Cross" , USA 1944) von Fred Zinnemann ist nach Anna Seghers' gleichnamigem Roman gedreht. Der Hauptdarsteller dieses Films, Spencer Tracy, wollte unbedingt auch "Transit" verfilmen, aber es kam nicht dazu. Und auch die "Casablanca" -Produzenten haben "Transit" gelesen, aber da war deren Film schon in Arbeit. Doch das Thema begegnet einem auch dort wieder.

Sie zeigen in Ihrem Film konkret auch die gegenwärtigen Fluchtbewegungen, die nach Europa hinein führen.

Der Junge Driss, für den der Held Georg zu sorgen beginnt, stammt aus Nordafrika, aus den ehemaligen Kolonialgebieten der Franzosen. Er und seine Mutter leben ohne Aufenthaltsgenehmigung in Marseille und wollen von dort aus weiter hinein nach Europa ziehen.

Die einzelnen Biografien in "Transit" bleiben immer skizzenhaft. Warum?

In Anna Seghers' Roman geht es eigentlich darum, dass Flüchtlinge keine Geschichte haben. Niemand hört ihnen zu. Wenn ich am Berliner Columbiadamm Badminton spielen gehe, liegt schräg gegenüber eines der größten Flüchtlingslager Berlins. Und doch sind die Flüchtlinge schon in der nächsten Nachbarschaft kaum sichtbar. Die Flüchtlinge haben in diesem weitgefassten Sinn keine Erzählung, die gehört wird, sie werden zu Geistern gemacht, sie werden im Alltag nicht wahrgenommen.

Haben Sie auch deshalb die Geschichte des Romans in die Gegenwart verlegt?

Noch einmal: "Transit" ist keine Rekonstruktion jener Zeit. Es geht nicht um die Frage, wie das damals 1940 in Marseille gewesen ist. Sondern der Film sagt: "So ist es immer noch!" Wenn im Film die Flüchtlinge des Jahres 1940 im heutigen Marseille stehen, dann ist die Geschichte nicht vergangen. Sie ist da. Und wenn wir genau hinsehen, dann spüren wir sie. Darauf kommt es an: dass man die Augen aufmacht.