Sanna Lenken, geboren 1978, studierte Regie an der National Film School in Stockholm und hat einen M.A. im Fach Drehbuch. Bevor sie begann eigene Filme zu machen, arbeitete sie am Theater und in verschiedenen Bereichen der Filmproduktion. Für das schwedische Fernsehen drehte sie zwischen 2010 und 2012 die Jugendserie "Dubbelliv" , die auf Jugendfilmfestivals weltweit ausgezeichnet wurde. Ihr letzter Kurzfilm "Äta lunch" über eine magersüchtige Fünfzehnjährige wurde auf der Berlinale 2013 in der Sektion 14plus uraufgeführt. "Stella" ist Sanna Lenkens Langfilmdebüt.

Frau Lenken, es gibt in der Öffentlichkeit viele Missverständnisse über die verschiedenen Formen einer Essstörung. Können Sie kurz erklären, worunter Katja in ihrem Film leidet?

Katja leidet unter Anorexie. Aber sie zeigt auch Anzeichen von Bulimie. Dies sind zwei völlig verschiedene Krankheiten, aber sie können bei manchen Betroffenen zusammen auftreten. Die Figur von Katja basiert in vielen Punkten auf einem Mädchen, das ich im Zuge meiner Recherchen interviewt habe. Auch Menschen, die unter Anorexie leiden, müssen ständig ans Essen denken. Es geht dabei um Kontrolle. Wenn sie dann doch einmal der Heißhunger überkommt, fühlen sie sich danach sofort schuldig und müssen sich übergeben.

Dieses Verhalten deutet auf Bulimie hin. Sie erwähnten, dass es bei Anorexie auch um Kontrolle geht. Inwiefern?

Anorexie hilft dabei, Ängste zu kontrollieren. Darum ist es auch so wichtig, mit den Betroffenen zunächst über ihre Emotionen zu reden. Ganz oft fühlen sie, dass es ihnen nicht erlaubt ist, die Person zu sein, die sie sein wollen.

Anorexie hat also soziale Ursachen?

Es ist eine Form von Missbrauch, vergleichbar mit Alkoholismus oder Drogenabhängigkeit. Die Mechanismen sind sehr ähnlich. Die Betroffenen versuchen, ihre Krankheit vor anderen zu verbergen. Sie verstricken sich in Lügen und beginnen, ihre Familie, Freunde und Mitmenschen zu manipulieren. Ich sehe es aber auch als ein Symbol für eine Gesellschaft, die jungen Menschen, vor allem jungen Mädchen, ein Ideal aufzeigt, wie sie zu sein haben und welche Rollen sie ausfüllen müssen. "Stella" ist nicht nur ein Film über eine Krankheit, sondern auch über die Herausforderung, eine Frau zu werden – und mehr noch: ein Mensch mit einer Persönlichkeit.

Was macht diese Krankheit mit der Persönlichkeit eines jungen Menschen?

Zunächst muss ich sagen, dass natürlich jeder Mensch anders mit emotionalen Problemen umgeht. Anorexie ist für viele von ihnen ein Weg, der Außenwelt zu zeigen, wie schlimm es in ihrem Innersten aussieht. Sie suchen Aufmerksamkeit und Trost. Und hier beginnt der Teufelskreis. Bekommen die Jugendlichen plötzlich die erhoffte Aufmerksamkeit, müssen sie sich dieser weiter versichern. So wird die Krankheit ein Teil der eigenen Identität.

Wie sind Ihre beiden Hauptdarstellerinnen mit der Thematik umgegangen? Ihr Spiel wirkt so natürlich, was ihre Rollen sehr glaubwürdig macht.

Ich war bei der Besetzung wählerisch, denn ich brauchte zwei Mädchen, die eine große Bandbreite von Emotionen spielen konnten. Es war auch wichtig, dass sie einander vertrauen und ähnlich starke Gefühle füreinander entwickeln wie Stella und Katja. Vor allem Rebecka, die Darstellerin von Stella, war anfangs sehr schüchtern, also mussten wir zunächst viel proben, miteinander sprechen, uns besser kennenlernen. Es war sicher hilfreich, dass beide Mädchen bis dahin noch keine Erfahrung als Schauspielerinnen gesammelt hatten. Sie hatten keine Erwartungen und waren bereit, sich ganz ihren Rollen hinzugeben. Amy, die Katja spielt, vielleicht sogar etwas zu sehr. Die Dreharbeiten haben sie sehr mitgenommen.

Was brachte Sie auf die Idee, die Krankheit Katjas aus der Sicht ihrer jüngeren Schwester zu erzählen?

Ich wollte die Geschichte durch die Augen einer Person erzählen, die sich all die Fragen stellt, die im Zusammenhang mit Magersucht immer wieder aufkommen. "Stella" gab mir außerdem eine Möglichkeit, die Erfahrungen Katjas zu spiegeln. Sie möchte wie ihre große Schwester sein, muss gleichzeitig aber mitansehen, wie diese ihre Gesundheit ruiniert. Stella und Katja repräsentieren im Film gewissermaßen zwei Seiten von mir selbst.

Sie haben als Jugendliche ebenfalls unter Magersucht gelitten. Konnten Sie dadurch die Darstellung von bestimmten Klischees vermeiden?

Einige dieser Klischees sind leider wahr. Aber ich versuche natürlich, Verhaltensweisen zu beschreiben, die man aus Filmen über Magersucht nicht unbedingt kennt. So habe ich vermieden, den dünnen Körper von Katja zu zeigen. Darin liegt nämlich die Gefahr bei Filmen über Essstörungen. Sie können leicht den gegenteiligen Effekt haben und junge Menschen dazu inspirieren zu hungern. Aber es funktioniert schon, Klischees zu vermeiden, indem man aus seinen persönlichen Erfahrungen schöpft. Die Szene zum Beispiel, in der Katja einen hysterischen Anfall hat, weil Stella ihr Ei gegessen hat, habe ich selbst erlebt.

Wie haben Sie sich der Beziehung zwischen Stella und Katja visuell angenähert? Welche Bilder hatten sie im Kopf?

Wir wollten vor allem Stellas Perspektive festhalten. Und das bedeutet eben auch zwangsläufig, dass das Publikum nicht jedes Bild versteht. Stella ist noch jung und naiv. Also haben wir versucht, diesen unschuldigen Blick auf Katja zu simulieren. So macht die kindliche Perspektive auch die Hilf- und Machtlosigkeit der Erwachsenen spürbar.

Katjas Eltern werden als liebevoll dargestellt und bemerken dennoch erst spät Katjas Probleme. Woran können Eltern frühzeitig erkennen, dass ihr Kind unter Anorexie leidet?

Mir war wichtig, Katjas Eltern in einem positiven Licht zu zeigen. Jugendliche, die unter Anorexie leiden, sind sehr kreativ darin, ihre Krankheit zu verbergen. Viele Eltern halten das veränderte Verhalten ihrer Kinder zunächst für Folgen der beginnenden Pubertät. Wenn sie dann merken, dass ihr Kind krank ist, machen sie sich Vorwürfe. Wichtiger ist aber, sich, wenn das Problem erkannt ist, zusammenzusetzen und über die Ursachen der Magersucht zu sprechen. Das Kind einfach nur dazu bringen zu wollen, mehr zu essen, ist keine Lösung.

Und was können Kinder und Jugendliche von ihrem Film lernen?

Ich fände es schön, wenn sie beim Sehen von "Stella" vor allem etwas fühlen und nicht nur versuchen, etwas zu verstehen. Junge Menschen sollen lernen, für sich selbst einzustehen, wie Stella das tut. Am Ende ging es mir darum zu zeigen, dass die Mädchen frei sind. Sie haben die Freiheit zu sein, wer oder was sie sein möchten.