Kategorie: Hintergrund
Hunger nach Leben: Die Darstellung einer Essstörung ohne Leidensbilder
Eine Essstörung kann auf unterschiedliche Weise in Erscheinung treten. Der Hintergrundartikel untersucht die Darstellung der Krankheit in "Stella" . Wie kann der Film helfen, Anzeichen einer Essstörung frühzeitig zu erkennen?
Die Nahrungsaufnahme gehört zu den elementarsten Mechanismen des Lebens. Magersüchtige haben diesen Anker über Bord geworfen. Kein "Jetzt iss doch endlich was!" dringt noch zu ihnen durch. Mit geradezu unheimlicher Disziplin und Härte gegen sich selbst, gegen die eigenen Bedürfnisse, gegen den Hunger von Körper und Geist, kämpfen Magersüchtige um jede 100 Gramm. Abnehmen steht für Erfolg. Für Magersüchtige zeigt jede Gewichtszunahme das eigene Versagen auf. Auch Katja, die Eiskunstlaufprinzessin in "Stella" , gerät in den Teufelskreis der Anorexie, während ihre kleine Schwester Stella hilflos zuschauen muss. Als Mitwisserin und Geheimnisträgerin lastet die Verantwortung schwer auf ihr.
Kontrolle über den eigenen Körper
Gleich in den ersten Einstellungen zieht die Schönheit der ausgeführten Eislauffiguren Stella in den Bann. Wir sehen, wie ihr Blick bewundernd den grazilen Bewegungen der großen Schwester folgt. Katja wirbelt im kurzen Röckchen übers Eis, der Inbegriff des weiblichen Schönheitsideals: lange wohlgeformte Beine, Taille, Po und Busen. Die Psychologin Katharina Abs, seit 2009 als Mitarbeiterin der "Sprechstunde Essstörung" in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Berliner Charité tätig, sagt über Katja: "Sie entspricht nicht der geläufigen Form der Magersüchtigen, dem Skelett mit Haut. Auch ist nicht klar erkennbar, ob sie an Anorexia nervosa oder Bulimie erkrankt ist. Bei beiden Krankheiten wird oftmals aus dem Prinzip, den eigenen Körper kontrollieren zu wollen, ein sich verselbstständigender Faktor. Aber es stellt sich keine Zufriedenheit mehr ein. Das berichten fast alle Patient/-innen. Niemand nimmt sich vor, essgestört zu werden."
Hart gegen sich selbst
"Das war mein Ei!", schreit Katja am Ende eines langen Trainingstages. Sie ist außer sich, weil Stella das hart gekochte Ei mit ihrem Namen drauf, heimlich gegessen hat. Denn Eier gehören zu den Lebensmitteln, die Katja sich erlaubt: Sie haben wenig Kalorien, stopfen, versprechen ein Esserlebnis mit dem Pellen der Schale und dem Hineinbeißen in das kalte Eiweiß. Und schließlich bergen sie den Gipfel des zugestandenen Genusses: das Eigelb, gewürzt mit ein wenig Salz. Für die Familie ist die hysterische Reaktion Katjas völlig unverständlich. Sie können nicht nachvollziehen, dass ihr nach einem Trainingstag voller Selbstoptimierung, dem Streben nach Perfektion auf dem Eis, am Abend nur das eine, einzige Bisschen erlaubt sein soll: das Ei.
Verdächtige Diäten
Die Unterscheidung in erlaubte oder nicht-erlaubte Lebensmittel ist ein frühes Indiz für eine Magersucht. "Oft heißt es: Ich will anfangen, mich gesund zu ernähren", erklärt Abs. "Damit fallen Lebensmittel, die Kohlenhydrate enthalten – Nudeln, Fleisch, Süßigkeiten, Fast Food, Säfte –, weg. Da sollten Eltern hellhörig werden. Aber sie sollten keinesfalls übertrieben misstrauisch reagieren." Bis heute ist wissenschaftlich nicht erwiesen, wie eine Essstörung zustande kommt. Eine Vielzahl von Faktoren spielt eine Rolle, so Abs: "Da ist zum einen die Familie. In "Stella" sind die Eltern so sehr mit dem eigenen Leben beschäftigt, dass keine entspannte Zeit für Freude oder Probleme bleibt. Es gibt aber auch eine genetische Vorbedingung für psychische Erkrankungen. Die Persönlichkeit, oftmals geprägt durch Ehrgeiz und Perfektionismus im Sport, kann ebenfalls ein Auslöser sein. Und psychosoziale Faktoren wie Mode und Schönheitsideale."
Ehrgeiz als Antrieb
Die Veränderungen des eigenen Körpers in der Pubertät sind manchmal schwer zu verkraften. Viele Mädchen sind stolz auf die plötzliche Fettansammlung im Brustbereich und stopfen ihren BH mit Wattepolstern aus. Andere wiederum fühlen sich gegenüber ihren nun leicht weiblichen Kurven wie ausgesetzt und tun alles, um diese loszuwerden. Katja dreht Pirouetten auf dem Eis, bis sie vor Schwäche ohnmächtig wird. In ihrer Freizeit läuft sie – getrieben vom Ehrgeiz, noch besser, noch funktionaler, noch durchtrainierter zu werden. In der Jogging- Zum Inhalt: Szene wird das ebenfalls deutlich. Als Stella vor Erschöpfung nicht mehr kann, muss Katja trotzdem weiter und weiter, sie kann nicht zurück.
Hilflosigkeit der Familie
"Liebes, nimm doch einen kleinen Biss", insistiert die Mutter. "Ich kann nicht", entgegnet Katja. "Trink einen Schluck Milch." – "Ich kann nicht." Die inständigen Bitten von Katjas Mutter verpuffen wirkungslos. Familie und Freunde stehen meist hilflos vor dem schwindenden Körper der Betroffenen – bis als letzte Option nur noch die stationäre Behandlung bleibt. Die letzten Einstellungen zeigen Katja und ihre kleine Schwester Stella lachend auf einem Bett in einer Klinik. Katharina Abs sieht zu diesem Schritt keine Alternative, auch wenn die Maßnahme drastisch erscheint: "Wenn die Umstände lebensbedrohlich sind, bleibt oft nur noch der Ausweg der Zwangsernährung. Das ist keine schöne Prozedur. Es kommt jedoch nur zu einer Zwangsernährung, wenn keine anderen therapeutischen Maßnahmen greifen." Denn starkes Untergewicht kann Organschädigungen verursachen. Dann geht der Körper an die Fettreserven, auch die des Herzmuskels.
Gefangen im eigenen Körper
Die Regisseurin Sanna Lenken beschreibt in "Stella" die entscheidenden Stadien einer Essstörung: die Verweigerung der Nahrungsaufnahme, die Ohnmachtsanfälle durch eine fehlende Grundversorgung des Körpers, die Hungerattacken, die Hilflosigkeit und Schuldzuweisungen der Angehörigen – und schließlich die Klinikeinweisung. Katja verkörpert auch die Traurigkeit und Einsamkeit, das Gefühl des Abgeschottetseins im eigenen Körper. Nur 40 bis 60 Prozent der Magersüchtigen, diese Zahlen schwanken von Studie zu Studie, gelingt es wieder, vollständig gesund zu werden. Je jünger sie bei der Erkrankung seien, desto größer die Chancen, erklärt Katharina Abs: "Heilung braucht sehr viel Zeit, in der Regel zwischen drei und sechs Jahren. Und: Magersucht ist keine Mädchenkrankheit. Jungen zeigen die gleichen Symptome, nur dauert es oft länger, bis die Krankheit erkannt wird. Ein Junge wird dafür gelobt, dass er muskulös und männlich ist." Das tröstliche Ende von "Stella" täuscht jedoch darüber hinweg, dass Magersucht in letzter Konsequenz auch tödlich verlaufen kann. Sie ist unter Jugendlichen nach wie vor die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterblichkeitsrate.