Kategorie: Interview
"Wir können niemals ein Ereignis exakt vorhersagen"
Der Systemarchitekt und Unternehmensberater Ilja Schneider erläutert die Funktionsweise der im Film "Pre-Crime" dargestellten Predictive-Policing-Software.
Nach dem Studium der Informationstechnik arbeitete Ilja Schneider als Softwareentwickler bei der Onestepahead AG in Berlin und Stuttgart mit Schwerpunkt Datenintegration für Geoinformations- und Navigationssystem. 2003 war er Mitgründer der TLS Consulting GmbH mit dem Fokus Beratung bei Datawarehouse, Business Intelligence und Performance Management-Projekten. Seitdem ist er als Systemarchitekt und Unternehmensberater, unter anderem für Daimler, Commerzbank, Bundespolizei und die Landespolizei Niedersachsen tätig.
Die Möglichkeit, Verbrechen zu verhindern, bevor sie passieren, gehörte lange Zeit in den Science-Fiction-Bereich. Welche technischen Voraussetzungen und welche Daten werden benötigt, um mit einer Software die Vorhersage der Wahrscheinlichkeit von Verbrechen zu treffen?
Man benötigt so viele unterschiedliche Daten wie möglich – einerseits über die beobachtete Person und ihr Verhalten sowie über die Umgebung wie Uhrzeit, Wetter, bauliche Details und demografische Daten. Mit spezieller Software kann man all diese Daten verknüpfen, interpretieren und somit auch Vorhersagen treffen. Das funktioniert im Kontext des Verbrechens nicht anders als bei der Wettervorhersage, wo jedoch weniger Parameter wie Luftdruck, Feuchtigkeit und Temperatur betrachtet werden.
Was verbirgt sich hinter dem Schlagwort "Big Data", das im Film mehrfach auftaucht?
"Big Data" ist in erster Linie nur ein Marketingwort, keine Technologie. Der Begriff kam auf, als sich Unternehmen nicht mehr fragen mussten, welche Daten es wert sind, dauerhaft gespeichert zu werden. In der Vergangenheit war Speicherplatz äußerst begrenzt. Irgendwann gab es aber leistungsstarke Datenhaltungs- und Auswertungssysteme mit höherer Kapazität bei sinkenden Zugriffszeiten. Firmen begannen, Daten zu kaufen. "Data Mining" ist in diesem Zusammenhang ein weiteres Schlagwort: Man sucht in großen Datenmengen Auffälligkeiten und Muster.
Ein weiterer Schlüsselbegriff im Film sind Algorithmen. Was genau verbirgt sich dahinter?
In der Informatik beschreibt er eine Ablaufvorschrift, um ein Problem zu lösen. Dahinter verbergen sich logische Operationen, die Schritt für Schritt abgearbeitet werden. Der Begriff Algorithmus wird häufig überstrapaziert und mystifiziert. Gerade bei Simulationen und der Vorhersage kommen oft selbstlernende Systeme und Komponenten zum Einsatz, die völlig ohne Algorithmen auskommen. Und diese lassen viel mehr Raum für Bedenken und irrationale Ängste, da ihre Schlussfolgerungen oft nicht überprüf- beziehungsweise begründbar sind.
Welche Bedeutung haben "Big Data" und Algorithmen in der Verbrechensbekämpfung?
Mithilfe gesammelter Daten und sogenannter Expertensysteme lassen sich erstaunliche Regelmäßigkeiten im scheinbar chaotischen, hochkomplexen Gewirr menschlichen Verhaltens erkennen. Das Verhalten des Menschen ist jedoch alles andere als willkürlich. Was aber verbrecherisch ist, entscheiden Gerichte und kein Computer.
Welche Art von Verbrechen kann die gezeigte Software überhaupt vorhersagen und bei welcher versagt sie?
Je mehr die Menschen von sich im Internet preisgeben, umso besser können Vorhersagen getroffen werden. Bei Taten von sogenannten Psychopathen, die Opfer nach willkürlichen Kriterien auswählen, scheitern hingegen die meisten Ansätze. Wir sehen dieses Problem auch, wenn Prognosen zur Resozialisierung oder Sicherungsverwahrung von Schwerverbrechern gestellt werden. Experten müssen sich mit einer Lebensgeschichte beschäftigen und tun sich mit diesen Einzelfällen sehr schwer. Übrigens ist es ein Irrglaube, dass mehr Detailwissen zu einer exakten Vorhersagbarkeit von Verhalten führt. Das Modell der Quantenmechanik besagt, dass jede Intensivierung der Beobachtung das Beobachtete selbst verändert. Jeder Versuch individuelles Verhalten lückenlos zu erfassen, erzeugt lediglich eine Art Labor oder Prüfstand, in dem Zweifel an der Aussagekraft der Ergebnisse bestehen. Wir können also nur unsere Vorhersage-Zeiträume erweitern und Wahrscheinlichkeiten präziser berechnen, niemals aber konkretes Geschehen, das wäre unwissenschaftlich.
Welche anderen Schwachstellen der Software gibt es?
Das wird im Film Zum Filmarchiv: "Pre-Crime" mehrfach angerissen. Abgesehen von den Problemen durch die Arbeit mit Modellen und Algorithmen, welche die reale Welt verzerren und vereinfachen, ist die Art und Weise wie wir Daten sammeln sehr unpräzise und fehlertolerant. Sie wird größtenteils von kommerziellen Unternehmen unternommen und dient in erster Linie nicht dem Predictive Policing, sondern dem Erreichen von möglichst vielen potenziellen Kunden. Menschen hinterlassen ihre Daten nicht in der gleichen Art und Weise. Es gibt gigantische Qualitätsunterschiede, die alles andere als zufällig sind. Es gibt Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – äußerst sensibel bei der Herausgabe von Daten sind und andere, deren gesamtes Leben eine einzige öffentliche Inszenierung ist.
Polizeiarbeit in den USA und Großbritannien unterscheidet sich von der in Deutschland. Auf welche Art von Predictive Policing greift die Polizei hierzulande zurück?
Wir haben in Deutschland eine andere Rechtslage als in den angelsächsisch geprägten Ländern. Ein wie im Film gezeigtes Scoring auf einzelne Personen ist hier schwierig. Personenbezogene Daten werden viel sensibler behandelt und in Datensammlungen im Regelfall anonymisiert. Es gibt auch keine homogene Produktlandschaft für Kriminalitätsbekämpfung der Landes- oder Bundespolizei, sondern maßgeschneiderte Lösungen. Ein Software-Standard ist gegenwärtig noch nicht abzusehen. Wir befinden uns erst am Anfang einer Entwicklung.
Am Berliner Bahnhof Südkreuz gibt es einen Modellversuch der Polizei. Zahlreiche Kameras überwachen das Areal. Dabei kommt auch Gesichtserkennung zum Einsatz. Warum wird dies so kontrovers diskutiert?
Ich bin kein Experte für Grundrechte, kann persönlich aber das Unwohlsein nachvollziehen. Es gibt den Konsens in einer modernen, demokratischen Gesellschaft, dass man davon ausgeht, nicht permanent beobachtet und kontrolliert zu werden. Außerdem ist unklar, was mit den gespeicherten Daten passiert. Beispielsweise ob sie mit anderen Daten verknüpft werden. Gleichzeitig ist es paradox, wie unbesorgt Menschen mit ihren persönlichen Daten im Internet umgehen. Warum man kommerziell agierenden Firmen stärker vertraut als dem Staat, vermag ich nicht zu sagen.
Wird ähnliche wie im Film thematisierte Software auch von privaten Firmen und Konzernen genutzt?
Eine Bank muss verlässliche Vorhersagen über die Entwicklung von Markt und Marktsegmenten haben, um Kreditentscheidungen zu ihren Gunsten zu fällen, Zinssätze festzulegen, um mit Ausfällen bei Krediten zu kalkulieren. Die rohstoffverarbeitende Industrie gibt sehr viel Geld dafür aus, Preise von Rohstoffen vorherzusagen. Der Kupferpreis beispielsweise verändert sich sehr stark und beeinflusst die Fonds der kupferverarbeitenden Unternehmen. Ein hoher Prozentsatz der Gewinnspanne ist von diesem Rohstoff betroffen. Es gibt unzählige andere Beispiele. Die kommerziellen Unternehmen waren die ersten, die diese Technologie nutzten. Die Sicherheitsorgane zogen lediglich nach.