Kategorie: Interview
"Eine Gesellschaft mit geringem Wachstum und Ressourceneinsatz ist durchaus möglich."
Prof. Dr. Lena Dräger, Direktorin des Instituts für Geld und Internationale Finanzwirtschaft der Universität Hannover, über einen regulierten Kapitalismus als Antwort auf die ökologische Krise.
Prof. Dr. Lena Dräger ist Direktorin des Instituts für Geld und Internationale Finanzwirtschaft der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hannover. In einer regulierten Marktwirtschaft mit ausreichend unternehmerischen Freiheiten sieht sie eine zukunftsfähige Wirtschaftsordnung.
kinofenster.de: Unser kapitalistisches Wirtschaftssystem birgt gravierende Probleme und Risiken – sowohl in sozialer als auch in ökologischer Hinsicht. Im Zum Inhalt: Dokumentarfilm Zum Filmarchiv: "Oeconomia" fragt jemand: "Wer kapituliert zuerst: Die Erde oder der Kapitalismus?" Was meinen Sie?
Lena Dräger: Es ist fast unmöglich einzuschätzen, ob der Kapitalismus am Ende ist. Unser Wirtschaftssystem hat sich ja stets als wandelbar erwiesen. Prognosen sind da sehr schwierig. Klar ist, dass der Klimawandel ein sehr drängendes Problem für das Fortbestehen der Menschheit ist. Deshalb muss sich die Art und Weise, wie wir Wirtschaft betreiben, anpassen. Dafür braucht es auch eine entsprechende Wirtschaftspolitik.
kinofenster.de: Der Kapitalismus folgt dem Wachstumsdogma: Ohne Wachstum kann das System Wirtschaft nicht überleben. Ist das nicht das Kernproblem?
Lena Dräger: Möglicherweise. Manche sagen, wir brauchen Wachstum, um das System am Laufen zu halten. Das stimmt bis zu einem bestimmten Grad. So lange es technologischen Fortschritt gibt, also die Wirtschaft produktiver wird, brauchen wir Wachstum, um die Beschäftigung aufrecht zu erhalten – da die allermeisten Menschen in unserem System Lohnbeschäftigte sind. Wenn das Wachstum zurückgeht, sinkt die Beschäftigung und wir haben massive Wohlstandsverluste. Aus diesem Grund sind Rezessionen, also Zeiten mit rückläufigem Wachstum, nicht gerade beliebt. Das heißt, man müsste einen Weg finden, Beschäftigung auch mit niedrigerem Wachstum zu erhalten.
kinofenster.de: Das passiert ja in einigen Industriestaaten.
Lena Dräger: Was wir beobachten, ist, dass die Wachstumsraten in den wirtschaftlich führenden Staaten viel geringer sind als in den Schwellenländern. Das hängt mit einer gewissen Sättigung in der Industrialisierung zusammen und einer relativ hohen Arbeitsmarktbeteiligung der Bevölkerung. Wenn bereits der Großteil der Bevölkerung in einem Arbeitsverhältnis beschäftigt ist, zum Beispiel weil die Arbeitslosigkeit gering ist oder weil Frauen bereits zu einem hohen Maße erwerbstätig sind, gibt es geringeres Wachstumspotenzial durch eine Ausweitung der Produktion über eine Ausweitung der Beschäftigung. Das ginge dann primär über Migration, also Einwanderung. Außerdem ist der Dienstleistungssektor in vielen Industrieländern heutzutage wesentlich größer als früher. Hier gibt es aber nicht so hohe Produktivitätszuwächse wie in der Industrieproduktion und daher wird auch nicht so viel Wachstum generiert. Eine Friseurin beispielsweise wird voraussichtlich immer eine bestimmte Menge an Haarschnitten pro Stunde schaffen. Dennoch gibt es im Dienstleistungssektor viel Beschäftigung. Eine Gesellschaft, die sich vom Industrie- hin zum Dienstleistungssektor wandelt, ist durchaus mit geringen Wachstumsraten und einem nicht so hohen Ressourceneinsatz möglich.
kinofenster.de: Sie meinen eine Gesellschaft wie unsere?
Lena Dräger: Ja, wobei der Industriesektor in Deutschland noch vergleichsweise groß ist.
kinofenster.de: Was sagen Sie zu wachstumskritischen Ideen wie Degrowth, die mit dem Dogma Schluss manchen wollen?
Lena Dräger: Ich habe ehrlich gesagt nicht ganz verstanden, wie dieses System funktionieren soll. Die Idee ist doch, dass der Staat vieles bereitstellt, was jetzt privat bereitgestellt wird – inklusive bedingungsloses Grundeinkommen. Dann soll privater Konsum nicht mehr wie im heutigen Maße nötig sein. Die Frage ist aber: Was bedeutet das? Bedeutet das, der Staat finanziert das über öffentliche Verschuldung – dann wäre es im Grunde nur ein Shift von privaten zu öffentlichen Schulden, also prinzipiell kein massiver Unterschied. Wenn man es über eine massive Umverteilung von hohen zu niedrigen Einkommen über Vermögenssteuern und ähnliches realisiert, gäbe das erhebliche soziale Konflikte. Es wäre nicht unmöglich, das zu tun. Es wäre auch nicht unfinanzierbar. Aber die Frage ist, ob man die möglichen gesellschaftlichen Verwerfungen tragen möchte.
kinofenster.de: Müssen wir also Umweltzerstörung und Ungleichheit so hinnehmen?
Lena Dräger: Ich bin keine Verfechterin der unbedingten Abkehr von Wachstum. Der Punkt ist, dass einerseits der Klimawandel und andererseits die Verteilungsfrage angegangen werden müssen – beides hängt ja auch direkt miteinander zusammen. Für beides braucht es einerseits einen klaren gesellschaftlichen Auftrag von Wählerschaften, andererseits sehr klare politische Vorgaben. Man kann nicht erwarten, dass die WirtschaftsakteurInnen allein auf die Idee kommen, klimaneutral zu produzieren. In dieser Hinsicht wird es immer Marktversagen geben. Investoren achten auch bereits auf klimagerechtere Anlagen und es wird bereits schwieriger, Kapital für umweltunverträgliche Produkte und Sparten zu bekommen, aber das reicht längst nicht aus. Man braucht klare politische Vorgaben.
kinofenster.de: Welche?
Lena Dräger: Zum Beispiel eine CO2-Steuer oder Fristen, bis zu denen Verbrennungsmotoren abgeschafft werden müssen.
kinofenster.de: In diesen Bereichen existieren zum Teil bereits Vorgaben – oder werden aktuell diskutiert.
Lena Dräger: Genau. Die aktuellen Konjunkturpakete in Deutschland und Europa sind auch darauf ausgerichtet, die Krise transformativ zu nutzen. Aber natürlich kann man immer noch mehr tun. Der von der Bundesregierung beschlossene CO2-Preis pro Tonne ab 2021 wird allerdings von vielen KollegInnen als zu niedrig empfunden. Global betrachtet ist die Situation derzeit schwierig, aber auch Deutschland könnte deutlich strikter regulieren, um die Pariser Klimaziele zu erreichen.
kinofenster.de: Und die Verteilungsfrage?
Lena Dräger: Da ist die Situation in Deutschland verbesserungswürdig, aber aus meiner Sicht nicht katastrophal. In anderen Ländern wie den USA oder im globalen Süden ist das natürlich eine viel größere Problematik. Wir sehen die sozialen Spannungen und die Verlustängste, die daraus resultieren, auch bei uns. Eine gute Wirtschaftspolitik muss diese transformativen Prozesse abfedern und schauen: Welche Sektoren müssen sich verändern, wie können wir sie dabei unterstützen? Und: Wie können wir den Beschäftigten in diesen Sektoren, die sich verändern müssen, neue Zukunftsperspektiven bieten?
kinofenster.de: Auch wenn es Deutschland relativ gesehen gut geht, ist eine zunehmende Spaltung zwischen arm und reich zu konstatieren. Ist das nicht auch ein Systemfehler?
Lena Dräger: Das ist ein Problem von Machtstrukturen. Aber selbst in einem anderen wirtschaftlichen System wären solche ja vorhanden. Also ist es wichtig, Strukturen zu schaffen, die dem entgegen wirken, die Lobbyismus begrenzen, gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen, die dafür sorgen, dass sich Politik als Politik für alle versteht. Letzten Endes läuft es auf die Regulierung dieser Machtgefälle hinaus. Sie muss man begrenzen, sonst wird sich auch nichts an der Verteilung ändern.
kinofenster.de: Wie sähe denn Ihre ideale Wirtschaftsordnung aus?
Lena Dräger: Wenn ich mir etwas wünschen könnte, wäre das ein System, in dem Marktversagen erkannt und durch Regulierung reduziert wird, aber dennoch nach wie vor ausreichend unternehmerische Freiheit besteht. Es sollte vermieden werden, dass einzelne Unternehmen eine zu große Marktmacht bekommen. Die Menschen, die in diesem System leben und arbeiten, sollen gleichberechtigt und selbstbestimmt und so frei wie möglich daran teilhaben können. Öffentliche Güter wie Bildung oder Gesundheit sollen zudem für alle verfügbar sein, so dass wir Chancengleichheit erreichen. Und: Auch der ökologische Aspekt muss mitgedacht werden. Denn nur wenn unsere Kinder die gleichen Chancen haben wie wir, ist das generationengerecht.