Von Kindesbeinen an ist Merida ein rebellischer Sturkopf: Sie macht, was sie will und sie weiß genau, was sie nicht will: eine feine, wohlerzogene Prinzessin sein. Doch als Tochter des schottischen Königspaars Fergus und Elinor ist ihre Zukunft vorbestimmt: Sie wird, so will es die Tradition, den Sohn eines Lords heiraten, Kinder bekommen und einen eigenen Haushalt führen. Doch Merida will ihr Leben selbst bestimmen und stößt damit auf heftigen Widerstand bei ihrer Mutter, die ganz andere Werte vertritt. Königin Elinor spricht von Verantwortung und Würde. Von Respekt und Tradition. Von Mäßigung und Manieren. Für sie ist es selbstverständlich, eigene Interessen dem Gemeinwohl unterzuordnen, vor allem, wenn Einflussbereich und Herrschaftssicherung auf dem Spiel stehen. Es ist ein Spiel, das ihre Tochter nicht spielen will, weil es keinen Spaß verheißt. Denn nichts tut Merida lieber, als mit Pfeil und Bogen auf dem Rücken ihres Pferdes auszureiten. Welche Vergnügungen gönnt sich dagegen ihre Mutter? Tagaus, tagein arbeitet die Königin hart an der Repräsentation des Hofes und ist, so will es einem angesichts ihres Gemahls und ihrer Kinder scheinen, die einzige vernünftige Person weit und breit. Das Leben ihrer Mutter will Merida – bei aller Liebe – nicht führen.

Generationen im Clinch

Mit dem Konflikt zwischen der freiheitsliebenden, aufrührerischen Prinzessin Merida und der traditionsbewussten, disziplinierten, aber auch liebevollen Königin Elinor gestaltet Zum Filmarchiv: "Merida – Legende der Highlands" (Brave, Brenda Chapman, Mark Andrews, Steve Purcell, USA 2012) auf beispielhafte Weise eine jener klassischen, geradezu zwangsläufigen Auseinandersetzungen über Fragen von Zukunftsgestaltung und Lebensplanung, in die früher oder später alle Eltern mit ihren Kindern geraten. Dabei sind die Konflikte zwischen Müttern und Töchtern, wie die zwischen Vätern und Söhnen, besonders dramatisch und schmerzhaft: weil in ihnen zwar im gleichen Geschlecht fundierte, jedoch unterschiedlich ausdifferenzierte Vorstellungen und Hoffnungen aufeinander treffen. Weil, daraus folgend, sich die eine Generation von der anderen auch in ihrer Geschlechtsidentität angegriffen und somit fundamental hinterfragt fühlt. Und während die Mutter glaubt, es besser zu wissen, weil sie mehr Fehler und damit mehr Erfahrungen gemacht hat, glaubt die Tochter, es besser zu wissen, weil ihr eben jene Erfahrung des Fehler-Machens fehlt.

Tradition und Moderne

Zudem treffen in Merida und Elinor unterschiedliche Mischungsverhältnisse von Selbstdisziplin und Hedonismus aufeinander. Merida ist ganz eindeutig die Tochter ihres Vaters, König Fergus, eines riesigen, lauten, wagemutigen Kriegers mit Zug zum Schelmischen und ausgeprägtem Hang zu Festivität und Exzess. Sehr zum Missfallen seiner Gemahlin schenkt Fergus bereits dem kleinen Mädchen Pfeil und Bogen, ermuntert es zu für eine Prinzessin unschicklichen Unternehmungen aller Art und ist unübersehbar stolz auf den wilden, draufgängerischen Charakter seiner Tochter. Elinor dagegen repräsentiert die Stimme der Vernunft. Ihre Stärken sind das Maßhalten und die Vermittlung, sie hält den königlichen Hof nicht nur im Innersten zusammen, sondern sichert auch dessen Vorherrschaftsrolle innerhalb der rivalisierenden Clans nach außen. Sie ist eine jener Frauen, die mit der Sorge für das Herdfeuer eine Jahrhunderte alte matriarchalische Tradition erfüllen, indem sie das Glück der Familie, das Wohlergehen der Gemeinschaft und den Frieden im Reich höher stellen als ihre individuelle Freiheit. Und freilich will Elinor nun, da ihre Tochter das heiratsfähige Alter erreicht hat, ihr Erbe gesichert und den Frieden, für den sie sich verantwortlich fühlt, gewahrt sehen. Sie möchte das, was sie ihr Leben lang für richtig gehalten hat, von ihrer Tochter bestätigt wissen. Denn andernfalls wären die Opfer, die sie gebracht hat, umsonst gewesen.

Bewährungsprobe eines Teenagers

Die Figurenkonstellation von Zum Filmarchiv: "Merida" folgt somit einer geradezu archetypischen Rollenzuordnung: Im Spannungsfeld zwischen väterlicher Impulsivität und mütterlicher Besonnenheit bewegt sich Merida, die junge Titelheldin, zunächst leichtfüßig – bevor sie angesichts der drohenden Heiratspflicht eine fatale Ereigniskette in Gang setzt. Der Zauber, den Merida in ihrer Verzweiflung von einer Hexe erwirbt, hat eine äußerst unerwartete Wirkung: Er ändert nicht Elinors Gesinnung in Bezug auf die Zukunft der Tochter, er verwandelt die Königin in einen riesigen Bären. Ausgerechnet! Ist doch König Fergus, seit das legendäre Untier Mor'du ihm ein Bein raubte, ein leidenschaftlicher und erfolgreicher Bärenjäger. In dieser Situation nun erweisen sich die von der Mutter mit so großer Skepsis betrachteten, eher männlich konnotierten Wesenszüge der Tochter als ausgesprochen hilfreich. Meridas Mut und Tapferkeit sind das Rüstzeug, das sie die Gefahren bestehen lässt, die sie mit ihren impulsiven Handlungen unbedacht über die Familie gebracht hat.

In weiter Ferne so nah

Der Gestaltwandel der Mutter ist das zentrale Motiv, das zu einer Verschmelzung der narrativen Schichten und schließlich zu einer kathartischen Konfliktlösung führt: Zum einen gewinnt die Mutter in ihrer Gestalt als Raubtier einen lustvollen Eindruck von jener Freiheit, um die ihre Tochter so erbittert kämpft. Zum anderen begreift Merida das Risiko von Alleingängen und die Wichtigkeit von Kompromissfähigkeit. Erst als sie denkbar weit voneinander entfernt sind – vom Streit entzweit und dann noch durch Magie der gemeinsamen Sprache beraubt – lernen Elinor und Merida aufeinander zu hören und beginnen, sich einander anzunähern und nach einem gemeinsam gangbaren Weg zu suchen.

Die Lehre der Legende

Eingebettet ist dieser Erkenntnisprozess in eine als Abschreckungsszenario fungierende Legende. Diese versinnbildlicht die Gefahr, die das Ausscheren aus der traditionellen Ordnung mit sich bringt: In grauer Vorzeit stand nämlich schon einmal die Einheit des Königreichs auf dem Spiel, als einer der Clansanführer seinen Alleinherrschaftsanspruch erklärte und es zum Krieg kam. Schließlich wurde der Unglückliche durch einen Fluch in den dämonischen Bären Mor'du verwandelt. Seither findet er keinen Frieden – bis er von Merida bei der Rettung ihrer Mutter kurzerhand miterlöst wird. Auf diese Weise heilt Merida nicht nur die frische Wunde, die sie dem harmonischen großen Ganzen – und damit Elinors Lebenswerk – zugefügt hat. Sie heilt auch jene uralte Wunde, auf der die Rivalität und leichte Reizbarkeit der um sie freienden Clan-Erben beruht.

"To mend a bond torn by pride", hatte die Hexe im englischen Original des Films als Gegenzauber vorgeschlagen: ein Band, das der Stolz zerrissen hat, wieder zusammenfügen. An dieser Stelle wird allerdings auch offenkundig, dass selbst Meridas emanzipatorischer Durchschlagskraft im seit jeher konservativen Hause Disney Grenzen gesetzt sind: Bezeichnenderweise ist die Fähigkeit, die der Geschichte ein Happy End beschert, Meridas geschickter Umgang mit Nadel und Faden: Sie flickt den von Elinor gefertigten Wandteppich, der die Königsfamilie darstellt und den Merida in einem Wutanfall zerrissen hat. So changiert das Rollenbild der jungen, weiblichen Heldin zwischen feministischer Rebellion und der Rückbesinnung auf traditionelle, vermeintlich weibliche Tugenden. Der Königsweg – so scheint der Film nahelegen zu wollen – liegt irgendwo dazwischen. Man kann nur spekulieren, welches Leben die Zukunft für Merida bereithält.

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