Die Aufgabe der Zum Inhalt: Musik im Film ist im Allgemeinen die der emotionalen Lenkung des Zuschauenden. Schwelgende Geigen signalisieren Romantik, Bläsereinsätze begleiten gerne Action-Szenen und das Klavier passt vorzugsweise zum Arthouse-Kino. Mal wird Musik extra für einen Film geschrieben, mal wird sie kompiliert aus Vorgefundenem. Musik kann Kommentar und/oder Verstärker des Geschehens sein, sie kann, wie im Fall des Musicals, das distinktive künstlerische Gestaltungsmittel eines Zum Inhalt: Genres sein, sie kann aber auch, wie im Fall von Louise Archambaults Zum Filmarchiv: "Gabrielle – (K)eine ganz normale Liebe" (Gabrielle, Louise Archambault, Kanada 2013) schlicht und einfach Bestandteil der Story sein.

"Les Muses" – professionelle Ausbildung für Menschen mit Behinderung

Foto: Alamode Film

Die beiden Hauptfiguren Gabrielle und Martin sind Mitglieder des Chors von "Les Muses", der sich zum Zeitpunkt der Filmhandlung auf einen gemeinsamen Auftritt mit dem berühmten, in Deutschland weniger bekannten frankokanadischen Chansonier Robert Charlebois vorbereitet. Bei der 1997 von der Tänzerin Cindy Schwartz gegründeten, in Montreal angesiedelten Einrichtung handelt es sich um ein Zentrum für Bühnenkünste, das Menschen mit einer geistigen Behinderung eine professionelle Ausbildung in den Fächern Gesang, Tanz und Schauspiel anbietet.

Gesang zur Vermittlung von Gefühlslagen

Insofern ergibt sich in "Gabrielle – (K)eine ganz normale Liebe" das Erklingen von Musik zwanglos aus dem Zum Inhalt: Setting und wird von der jeweiligen Situation (Probe, Auftritt) motiviert. Zugleich dienen die dargebotenen Lieder der Vermittlung innerer Zustände und Gefühlslagen. Musik im Hintergrund hingegen, im Sinne von Untermalung oder eines von Außen kommenden Kommentars, gibt es im Film nur an einer Stelle: Während Gabrielle auf eigene Faust im Bus unterwegs ist, um Martin an seinem Arbeitsplatz zu besuchen, erklingt Marie Pierre Arthurs Cover-Version des Iggy Pop-Hits "The Passenger". Der Song fungiert hier nicht einfach nur als plumpe Verdoppelung (Fahrt, Ortswechsel, Übergang). Stellvertretend für die Figur formuliert der Text ("And everything was made for you and me") Selbstermächtigung und Gewissheit des eigenen Gefühls, etwas, das Gabrielle aufgrund ihrer Behinderung so wohl nicht zu reflektieren in der Lage wäre.

Filmausschnitt Gabrielle - (K)eine ganz normale Liebe (© Alamode Film)

Musik und das Williams-Beuren-Syndrom

Menschen, die wie Gabrielle mit dem Williams-Beuren-Syndrom geboren werden, einem seltenen Gendefekt mit Auswirkung auf das Sozialverhalten, haben im Bereich des logischen und räumlichen Denkens oft mit beträchtlichen Defiziten zu kämpfen, während sie zugleich im sprachlich-musischen Bereich über überdurchschnittliche Fähigkeiten verfügen. Viele können ein oder mehrere Instrumente spielen und einige haben das absolute Gehör, Noten lesen aber können die Betroffenen in der Regel nicht. Die Lieder, die in "Gabrielle – (K)eine ganz normale Liebe" im Chor oder von Einzelnen zu Gehör gebracht werden, bezeugen zum einen die spezielle Begabung und besondere Fähigkeit der Protagonisten/innen. Zum anderen gleichen sie deren gegebenen Mangel an komplexen kognitiven Fähigkeiten aus, indem sie dialogische Funktion übernehmen und auf diese Weise das dramaturgische Gerüst des Films stützen.

Chansons mit leitmotivischer Funktion

Foto: Alamode Film

Wenn beispielsweise Martin Gabrielle seine Liebe erklärt, dann tut er das in Form einer Karaoke-Darbietung im Rahmen eines gemeinsam besuchten Discoabends. Interessanterweise wird es kurz darauf, als es zu einer ersten sexuellen Annäherung der beiden kommt, auf der Tonspur des Films ganz still – konträr zum konventionellen Verfahren, das hier Schmachtstreicher hätte anschwellen lassen. Damit wird die volle Konzentration des Publikums auf die Sinnlichkeit der taktilen Berührung gelenkt und zugleich auch der Abwesenheit von Musik Bedeutung zugewiesen. Auch wenig später, nachdem Martins Mutter über die beiden Verliebten die Trennung verhängt hat, äußert sich deren Kummer ebenso wie deren Widerstand in Gesang. Große Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den beiden Charlebois-Klassikern "Ordinaire" und "Lindberg" zu. "Ordinaire" ist nicht nur Martins Lieblingslied, das dessen Sehnsucht nach Normalität und Eigenständigkeit zum Ausdruck bringt. "Ordinaire" wirkt auch leitmotivisch und verdichtet die an die Gesellschaft gerichtete Botschaft des Films, sein Plädoyer für Respekt und Toleranz. Wohingegen das gegen Ende eingesetzte "Lindberg" (eine wild assoziierte Fabel über Freiheit, Liebe, Fernweh und Erfüllung) den romantisch-lyrischen Gehalt, den Liebesfilm-Charakter des Films verstärkt.

Über Musik zu mehr Selbstwertgefühl

In enger Absprache mit "Les Muses" und anderen Behinderteneinrichtungen realisiert, folgt "Gabrielle – (K)eine ganz normale Liebe" keinem traditionellen Spannungsbogen, sondern den Einfällen und Angeboten der Darsteller/innen; seinen hohen Grad an Authentizität erreicht der Film nicht zuletzt, weil er die bedeutende Rolle, die Musik in ihm einnimmt, als Mittel der betreuerischen Praxis motiviert und solcherart organisch in die Narration einbettet. Musiktherapeutische Verfahren gehören zu den ältesten Behandlungsmethoden für körperliche, seelische und geistige Erkrankungen, weil Musik, neutral formuliert, über die Fähigkeit verfügt, starke emotionale Reaktionen hervorzurufen. Gemeinsames Musizieren verbindet und bewegt, es kann der Isolierung und Vereinsamung entgegenwirken, kann das Selbstwertgefühl stärken und innere Sicherheit (wieder-)herstellen. In diesem Sinne erzählt der Film nicht einfach nur die Geschichte einer Liebe mithilfe punktgenau und sinnhaft eingesetzter Musik. "Gabrielle – (K)eine ganz normale Liebe" erzählt auch etwas über seine Darsteller/innen, und über das Glück, das die Musik in deren Leben bedeutet.