Der Sozial- und Sonderpädagoge Wilfried Wagner-Stolp hat viele Jahre als Eltern- und Familienreferent bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe gearbeitet und leitet jetzt die Direktion Fachdienste bei der Lebenshilfe Berlin. Die Organisation versteht sich als Selbsthilfevereinigung, Eltern-, Fach- und Trägerverband für Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Familien.

Herr Wagner-Stolp, wie sieht die Rechtslage in Deutschland aus? Welche Einschränkungen und Freiheiten gibt es in Bezug auf ein selbstbestimmtes Leben geistig behinderter Menschen?

Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet, ein internationales Übereinkommen zu den Rechten Behinderter, und da ist eindeutig klar geregelt: Menschen mit Behinderung sind Menschen mit Bürgerrechten, wie sie alle anderen auch haben.

Da werden keine Unterscheidungen nach Schwere der Behinderung vorgenommen?

Solch ein Schubladendenken würde ja wieder zu Benachteiligungen führen. Die Konvention aber sieht vor: Alle haben dieselben Bürgerrechte. Zur Kompensation bei Menschen mit sehr komplexen Behinderungen gibt es die Möglichkeit zu einer gesetzlichen Betreuung, die allerdings in einem Gerichtsverfahren festgelegt werden muss – eine Lebensassistenz, die es in unterschiedlichen Formen gibt, zum Beispiel bei Aufenthalts- oder Geschäftsfragen. Es gibt jedoch nicht den einen gesetzlichen Betreuer, der ein Pauschalpaket bekommt und alles regeln darf. Es wird genau geschaut, wo die Ressource des behinderten Menschen so ist, dass er sein Leben selbst regeln kann und wo er dazu flankierenden Beistand braucht.

Welche Wohnformen werden für geistig Behinderte angeboten?

Es ist zum Glück in den vergangenen Jahrzehnten eine große Vielfalt geworden. In den 50er- und 60er-Jahren herrschten die großen Wohnheime vor, und zum Teil werden auch heute noch so große Einrichtungen betrieben – genauso wie man sich das Wohnen der Behinderten fernab der Gesellschaft vorstellt. Das ist aber nicht mehr zeitgemäß. Über die Jahre haben sich ausdifferenzierte und immer kleinere Wohneinheiten entwickelt, wie zum Beispiel in einer betreuten Wohngemeinschaft so wie auch im Film Zum Filmarchiv: "Gabrielle". Es gibt aber auch die Möglichkeit eines betreuten Einzelwohnens im Verbund, bei dem Einzelwohnungen an Alleinstehende oder Paare vergeben werden, für die es dann im jeweiligen Kiez immer auch eine Treffpunktwohnung gibt. Manche wiederum leben ganz allein, losgelöst von anderen Menschen mit Handicap und mit ganz individueller Unterstützung. Diese Palette braucht es auch, weil die Lebensvorstellungen behinderter Menschen so unterschiedlich sind. Eine wichtige Rolle spielt bei diesen Wohnformen aber auch die Frage: Wie schnell fühlt sich jemand, der behindert ist, ausgegrenzt und einsam, weil der notwendige Respekt in der Gesellschaft fehlt?

Wie wäre es in Deutschland, wenn eine Frau wie Gabrielle sagt, sie wolle allein leben?

Das muss möglich sein und wäre vom Grundsatz her überhaupt kein Problem. Die Unterstützung beim Wohnen soll in Deutschland personenzentriert geplant werden. Man fragt zunächst, was das für ein Mensch ist, der die Behinderung hat, und wie er wohnen möchte. Da gibt es sehr unterschiedliche Bedürfnisse und Möglichkeiten.

Gibt es Probleme, was Liebe, Sexualität und Familiengründung anbelangt? Und wie stehen die Betreuungspersonen dazu?

Die Suche nach einer Partnerschaft beschäftigt Menschen mit Behinderung so wie uns alle, und Sexualität ist ein Teil dieser Paar-Erfahrung. Das ist so vielfältig, wie die vermeintlich nicht-behinderten Menschen auch Sexualität erleben. Man unterstellt den geistig Behinderten gern, dass sie, was Sexualität angeht, mehr so kuschelig sind, dabei ist Genitalsex natürlich gleichwohl Thema. Was die Betreuungspersonen beispielsweise bei so einer unterstützten Wohnform wie im Film "Gabrielle" anbelangt, kommt es darauf an, dass sie ihr eigenes Verhältnis zur Sexualität gut geklärt haben. Je gehemmter ein Mitarbeiter ist, desto schwerer haben es auch die im Wohnen unterstützten Menschen. Dazu kommen die Sorgen der Eltern der Behinderten, die erwachsen geworden sind und Liebe und Sexualität entdecken. Das sind im Grunde dieselben Sorgen, die Eltern mit nicht-behinderten Kindern haben, nur dass da noch einmal wie durch ein Brennglas und noch einmal emotionaler, sensibler darauf geschaut wird.

Wie ist es denn, wenn Behinderte eine Familie gründen wollen?

Dem Recht nach ist das möglich. Das Recht auf Kinder, das Recht auf Familie ist im Grundgesetz fest als Bürger- und Menschenrecht verankert. Das läuft in Deutschland zwar noch mit Hürden, aber es verändert sich Schritt für Schritt etwas zum Positiven.

In der Gesellschaft ist es aber immer noch ein Problem, wenn zwei Menschen mit geistigem Handicap gern ein Kind haben wollen?

Ja, das ist richtig. Es ist allerdings ein Vorurteil, dass bei zwei Behinderten ein behindertes Kind geboren wird. Diese Assoziation kommt noch allzu häufig. Zum Beispiel das Williams-Beuren-Syndrom, das Gabrielle hat, ist wirklich eine Laune der Natur – etwa bei einem Kind unter 50.000. Mitunter muss das Thema Kind bei Menschen mit geistigem Handicap aber dennoch sehr sensibel angeschaut werden. Wichtig ist auszutarieren zwischen dem Recht der Erwachsenen und dem Kindeswohl. Es gibt Projekte wie bei uns in der Lebenshilfe, die "begleitete Elternschaft", bei der geistig behinderte Menschen mit Kindern betreut werden.

Gibt der Film "Gabrielle" die Probleme in Bezug auf Partnerschaft und Sexualität angemessen wieder?

Sehr sensibel, sehr authentisch. Natürlich hat ein Film, damit er cineastisch rüberkommt, seine emotionalen Verdichtungen, durch die das Publikum gefangen genommen wird. Ich finde aber sehr gut, dass möglich wird, über das Williams-Beuren-Syndrom und diese Sympathieträger im Film zu sehen: Wie leben Menschen mit Behinderung heute in der westlichen Welt? Welche Sorgen und Nöte haben sie über das genetische Syndrom hinaus? Und dieses Erleben ist übertragbar.

Auch über kanadische Grenzen hinaus?

Das Leben in Deutschland und Kanada ist, glaube ich, an vielen Stellen vergleichbar und die Fragen nach Intimität, Partnerschaft und Selbstbestimmung kann man so gleichermaßen sehen. Für die Kinozuschauer wird der Film etwas anregen und zeigen: Alle wollen letztlich teilhaben am Leben mittendrin und dieses Leben total normal leben wie andere auch. Wenn diese Botschaft so rüberkommt und von Sympathieträgern vermittelt wird, ist das wieder ein kleiner Baustein dafür, dass sich etwas in Köpfen und Herzen verändert.