Der Roman Fabian. Die Geschichte eines Moralisten von Erich Kästner erschien 1931 in der Deutschen Verlags-Anstalt. Auf Drängen des Verlags hatte sich der Autor zu einigen Kürzungen und Veränderungen bereit erklärt. Die offensichtlichste betraf den Titel: Ursprünglich sollte der Roman Der Gang vor die Hunde heißen. Aber auch einige "krasse Kapitel“ fielen weg, so formulierte Kästner es 1950 in einem Vorwort zu einer Neuauflage seines Buches. Der stark negative Titel, den "der Erstverleger nicht zuließ", hatte eine bestimmte Funktion: "Er wollte warnen. Er wollte vor dem Abgrund warnen, dem sich Deutschland und damit Europa näherten." Erst 2013 veröffentlichte der Germanist Sven Hanuschek die vollständige Ausgabe dieses Texts, im Buchhandel ist aber auch weiterhin die Version der Erstausgabe mit dem Titel Fabian sowie dem interpretierenden Untertitel erhältlich. So existiert also einer der wichtigsten Großstadtromane der deutschen Literatur bis heute in verschiedenen Fassungen.

Eine Welt der technisch-medialen Überforderung

1980 legte Wolf Gremm eine Verfilmung (Glossar: Zum Inhalt: Adaption) vor, der die Originalfassung von Kästner nicht zur Verfügung stand. Nun hat Dominik Graf dieses Schlüsselwerk für die Berliner Moderne ein weiteres Mal verfilmt, und zwar mit einem pointierten Titel: "Fabian" oder "Der Gang vor die Hunde" kann man im Zum Inhalt: Abspann lesen. Die (im Vorspann und der Werbung nicht verwandten) Anführungszeichen sind wohl bewusst so gesetzt. Es handelt sich nicht so sehr um einen zweiteiligen Titel, sondern um zwei Titel, zwischen denen eine Spannung bestehen bleiben soll. Da Dominik Graf auffällig genau dem Text der rekonstruierten Romanfassung folgt, könnte man sogar vermuten, dass es bei der Verfilmung auch darum ging, der Krassheit von Kästners eigentlicher Vision wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Zugespitzt gesagt: Dominik Graf nutzt die Mittel des Kinos, um den Charakter dieser Krassheiten, wie der Schriftsteller sie nannte, näher zu bestimmen.

Lupa Film/Hanno Lentz/DCM

Eine kleine Zum Inhalt: Szene soll das deutlich machen: Fabian liebt Cornelia, die ihn allerdings wegen einer Karriere als Schauspielerin verlässt. Er trifft sie danach auch weiterhin, und nach einer Aussprache im Cafe Spalteholz, ihrem vertrauten Treffpunkt, verabschiedet sie sich für immer. "Er folgte ihr und war mit sich sehr unzufrieden. Er kränkte sie, weil er ein Recht dazu hatte, aber war das ein Grund?" Diesen Satz zitiert Graf wörtlich, er lässt ihn von einem Erzähler sprechen (es gibt auch eine Erzählerin, deren Stimme aber seltener zu hören ist). Im Buch gehen Fabian und Cornelia danach eine Straße entlang, im Film nimmt sie ihn in einem Auto mit, in dem der Chauffeur auf dem Beifahrersitz ein Grammophon hat – eine Art verfrühtes Autoradio. Warum legt Graf auf diese Kleinigkeit Wert? Weil er ihm mit der ganzen Form des Films darum geht, das näher zu bestimmen, was Kästner als "krass" bezeichnet hat. Krass ist die ganze Erfahrung der technisch-medialen Welt, die um 1930 in eine Krise der Überforderung führte. Das Auto-Grammophon ist zugleich modern und dekadent.

Der Film wertet die Liebesgeschichte auf

In der frühen Rezeption des Romans, die mit dem Verleger als erstem Leser beginnt, waren es vor allem sexuelle Details, die Anstoß erregten. Fabian bewegt sich durch ein freizügiges Berlin, in dem Sex oft mit Geld zusammenhängt, aber auch als eine Form von Betäubung erscheint. Er sagt von sich selbst, dass er zwar kein "Tugendbewahrer“ ist, aber es "betrübt" ihn, wenn er sehen muss, "dass eine Frau unter ihrem Niveau lebt". Sein eigenes Verhältnis zu Frauen ist geprägt von einer gewissen Distanz, die auch durch seine finanziellen Schwierigkeiten bestimmt wird: Ein Leben mit Sorgen reicht vielleicht für das Vergnügen, nicht aber für die Liebe, also auch für Verantwortung. Kästner betont diesen Aspekt, indem er in der Urfassung Der Gang vor die Hunde zum Beispiel einen Bordellbesuch beschrieb, in dem eine Frau sich ein Gummiglied umgebunden hat – dieses Detail musste 1931 gestrichen werden.

Lupa Film/Hanno Lentz/DCM

Graf greift vor allem auf zwei Weisen gegenüber den Textfassungen ein – die selbst wiederum auf ihre Weise "krass" sind. Erstens verändert er massiv den Charakter der Liebesgeschichte zwischen Fabian und Cornelia. Bei Kästner ist diese Beziehung letztendlich ein beiläufiges Ereignis, die Frau taucht in Fabians Leben auf, und verlässt es wieder. Graf und sein Drehbuchpartner (Glossar: Zum Inhalt: Drehbuch) Constantin Lieb aber werten diese Liebesgeschichte deutlich auf. Sie beginnt mit einem Countdown, wodurch das Zusammentreffen regelrecht schicksalhaft wird. In einer zentralen Szene spricht Cornelia, als sie sich für eine Filmrolle bewirbt, einen Text, den Fabian für sie geschrieben hat – der wiederum von Graf und Lind, und nicht von Kästner stammt. Und noch in den letzten Sekunden des Films ist Cornelia die entscheidende Bezugsfigur. Im Roman hingegen ist Fabian, der schließlich einen sinnlosen Tod stirbt, zum Ende hin sogar bereit, als Propagandist für die politische Rechte zu arbeiten. Graf wertet also den Pragmatismus des Helden um. Er macht ihn stärker zu einem Kinohelden, denn in Filmen gehört das Liebesdrama zu den Grundbedingungen jeder Erzählung.

Graf verstärkt den Eindruck der Fiebrigkeit

Krasser noch ist die Art und Weise, wie Graf insgesamt mit dem Text umgeht. Kästner erzählt lakonisch ("neusachlich" ist die literaturhistorische Bezeichnung). Pointierte Dialoge tragen die Erzählung, dazwischen gibt es viele nicht minder pointierte Reflexionen. Ausführliche Beschreibungen wie im bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts fehlen. Der Roman ist bewusst auf eine rasche Lektüre angelegt. Diesen Gestus einer gewissen Fiebrigkeit erhöht Graf mit seinen filmischen Mitteln radikal: Die Kamera ist niemals ruhig (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen), die Abfolge der Einstellungen (Glossar: Zum Inhalt: Montage) ist sprunghaft, die Zum Inhalt: Filmmusik von Sven Rossenbach und Florian von Volxem ist regelrecht avantgardistisch.

Graf hebt hervor, dass die Epoche, von der Kästner erzählte, häufig als eine Zeit der potenzierten Schockwirkungen erlebt wurde. Anders als bei Alfred Döblin, der mit Berlin Alexanderplatz (1929) die Romanform diesen Schocks anzupassen versuchte, ist Erich Kästners Der Gang vor die Hunde ein Versuch, angesichts der Herausforderungen seiner Zeit eine gewisse Nonchalance zu bewahren. Dominik Graf aber, mit dem Blick aus dem Heute, macht Ernst mit dem apokalyptischen Datum. Am Ende seiner Verfilmung brennen die Bücher.

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