Andrea Schramm hat Fernsehjournalistik in Leipzig und Regie an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg studiert. 1999 gründete sie gemeinsam mit ihrer Kommilitonin Jana Matthes die Produktionsfirma Schramm Matthes Film, mit der sie Dokumentarfilme und Reportagen für verschiedene Fernsehsender realisieren. Zum Filmarchiv: "Endlich Tacheles", der die Familiengeschichte von Yaar erzählt, ist ihre erste Produktion für das Kino.

Das Audio-Interview mit Andrea Schramm und Yaar führte Anna Wollner im September 2021 in Berlin. Unter dem Podcast finden Sie das Gespräch auch in schriftlicher Form. Der Text weicht von der Hörfassung leicht ab.

kinofenster.de: "Endlich Tacheles" von Jana Matthes und Andrea Schramm ist ein Zum Inhalt: Dokumentarfilm über den jungen Berliner Yaar, der über die Recherchen zu einem Computerspiel tief in die eigene jüdische Familiengeschichte eindringt. Der Film zeigt, wie sich das Trauma der Überlebenden des Holocaust bis in die dritte Generation frisst. Mein Name ist Anna Wollner und ich habe für kinofenster.de mit der Regisseurin Andrea Schramm und ihrem Protagonisten Yaar gesprochen und sie gefragt, was die Ausgangsidee für den Film war.

Andrea Schramm: Yaar hat sich bei uns als Praktikant beworben und wir haben an ganz anderen Stoffen zusammengearbeitet. Sein Jüdisch-Sein hat eigentlich gar keine Rolle gespielt und doch haben wir gemerkt, dass es in ihm arbeitet, dass er ein Rucksack auf seinen Schultern trägt, in dem irgendwas drin ist, was er nicht definieren kann, den er aber auspacken möchte, um nachzugucken. Das war unsere Ausgangssituation, das ist eine spannende Geschichte: Da ist ein junger Mann, der an etwas leidet und nicht mal weiß woran.

Yaar: Interessanterweise haben sie mich darauf angesprochen, also dass sie eine Idee haben, vielleicht etwas Jüdisches zu machen. Am Anfang ging es um jüdisches junges Leben in Deutschland … und dann haben wir gesehen, was daraus geworden ist.

Andrea Schramm: Wir haben uns kennengelernt, haben andere Geschichten recherchiert und dann festgestellt, dass Yaars Geschichte und der Konflikt zu seinem Vater eigentlich sehr spannend sind, also dass da ein junger Berliner Jude ist, der sagt: Ich bin der unjüdischste Jude der Welt, der aus Opposition, vielleicht auch seinem Vater gegenüber, ein Computerspiel entwickeln möchte, um den Holocaust für seine Generation zu erzählen. Das fanden wir unheimlich interessant. Für uns Regisseurinnen war von Anfang an auch die Idee da, zu erzählen, wie sich die Traumata der Überlebenden bis in die zweite und vor allem die dritte Generation fressen.

kinofenster.de: Es ist für einen Dokumentarfilm eher ungewöhnlich, dass der Protagonist aus einer gemeinsamen, anderen Recherchearbeit zum Mittelpunkt eines Films wird. Wie war dann die Zusammenarbeit? Wie müssen wir uns Recherchen für den Film, die Dreharbeiten vorstellen?

Andrea Schramm: Es war eher ein Vorteil, dass wir uns bereits kannten, weil wir dadurch einen anderen Zugang hatten – auch zu seiner Familie und zu sehr emotionalen Situationen.

Yaar: Wir haben zusammen überlegt: Wo gehen wir hin? So entstand zum Beispiel die Idee, nach Krakau zu gehen, aus der Frage, welche Orte wir besuchen. Dann haben wir gesagt: Polen, dann kam Krakau. Das war eine gemeinsame Idee. Ich glaube, es war in dieser Hinsicht vorteilhaft, dass wir uns schon vorher gekannt haben, weil da eine Art Vertrauensbasis war, besonders bei diesem sensiblen Thema. Man sieht im Film, dass am Anfang gerade mein Vater nicht so begeistert war von der Idee: Man schlachtet jetzt diese Geschichte aus und macht daraus Geld …

Andrea Schramm: Er hatte Vorbehalte. Aber ich glaube, dein Vater wollte dich eher schützen. Es wurde viel geschwiegen in der Familie. Die Geschichte wurde nicht erzählt, um Yaar zu schützen und daher kommt auch, dass er diesen Rucksack trug, aber eigentlich nicht wusste, was da drinnen ist. Wir hatten uns schon überlegt: Wo fahren wir hin? Was sind die Orte der Familiengeschichte? Aber was dann dort passiert ist, war für uns alle vollkommen neu und da sind auch Sachen passiert, die wir uns vorher nicht hätten ausdenken können.

kinofenster.de: Es gibt sehr viele schmerzhafte Momente. Wie war das für sie beide – auf der Regisseurinnen- wie auf der Protagonisten-Seite – diese Momente mit der Kamera zu begleiten? Und eventuell auch die Kamera auszumachen, weil es vielleicht doch zu weit ging?

Yaar: Ich habe irgendwann die Kamera nicht mehr wahrgenommen. Wenn man tatsächlich drei, vier Jahre zusammen dreht … In den ersten zwei Monaten, ja, und dann habe ich es irgendwann vergessen. Ich erinnere mich, dass ich persönlich in manchen Momenten auch wollte, dass die Kamera draufgehalten wird. Ich erinnere mich noch an die Zum Inhalt: Szene, in der ich an der Kirche geweint habe. Da habe ich sogar noch geguckt, ob die Kamera draufgehalten wird, um dann weiterzumachen.

Andrea Schramm: Ich glaube, diese Szene ist ein gutes Beispiel. Yaar fing an zu weinen. Die Frage ist dann immer, ob man die Kamera ausmacht. Ich fand, unser Kameramann hat das richtig gemacht. Er ist zurückgegangen, er hat ihm den Raum gelassen und Yaar hat uns nicht signalisiert, die Kamera auszuschalten. Aber natürlich hätten wir das Material niemals verwendet, wenn die Familie damit am Ende nicht einverstanden gewesen wäre. Dass es schmerzhafte Momente gibt, das liegt, glaube ich, am Thema. Die Familie wollte letztlich diese Geschichte auch so erzählen. Oder anders gesagt: Diese Geschichte ist schmerzhaft. Ich finde, da kann man auch als Regisseurin die Kamera in den schmerzhaften Momenten nicht ausschalten, weil es einfach Teil der Geschichte ist.

kinofenster.de: Eine Frage, die sich viele stellen werden nach dem Film: Eine Art roter Faden, ein zentrales Element, ist das Computerspiel. Was ist aus dem geworden?

Yaar: Das Spiel ist noch nicht fertig. Ich habe nach dem Film erstmal eine Zeitlang gebraucht, um von dem Thema Abstand zu gewinnen. Das Spiel ist wieder in Planung, aber ich glaube, mit einer Reihe von anderen Perspektiven als davor.

kinofenster.de: Warum ist es aus Ihrer Sicht auch heute immer noch wichtig, Geschichten über das Erinnern und die Traumata mehrerer Generationen fürs Kino zu erzählen?

Andrea Schramm: Viele oder einige junge Menschen vertreten die Ansicht: Es muss doch jetzt endlich mal vorbei sein! Und wir haben doch keine Schuld! Ich denke, wir sind als Enkel oder Urenkel nicht schuldig, aber wir haben eine große Verantwortung, diese Geschichte weiter zu erzählen, damit so etwas nicht wieder passiert. Und: Wer soll die Verantwortung tragen, wenn nicht wir?

Yaar: Geschichte wiederholt sich ja sehr gerne. Und was da passiert ist oder was später in Deutschland passiert ist, das kann sich wiederholen. Das sieht man ja. Diese Tendenzen sind immer da und deswegen ist es umso wichtiger, neue Formen zu finden, wie man Leuten so etwas vermittelt.

kinofenster.de: Ganz herzlichen Dank für das Gespräch.

Andrea Schramm: Wir danken Ihnen.