Saudi-Arabien befindet sich in einem radikalen Wandel. Ihr Alltag sei freier und fröhlicher geworden, sagen heute viele junge Menschen die dort leben. Was noch vor kurzem im ultrakonservativen Königreich undenkbar gewesen wäre, etwa öffentliche Konzerte, Kunst als Lehrfach an Universitäten, Sportveranstaltungen und Visa für Touristen, ist innerhalb fünf Jahren Realität geworden. Insbesondere für Frauen hat sich viel verändert. Frauen dürfen neuerdings in Saudi-Arabien selbst Arbeits- und Mobilfunkverträge unterschreiben, in Hotels einchecken, in Sportstadien gehen und – wie man in Haifa Mansours Spielfilm Zum Filmarchiv: "Die perfekte Kandidatin" (DE/SA 2019) sehen kann – auch Auto fahren. Seit August 2019 benötigen saudische Frauen für Reisen im In- und Ausland keine Reisegenehmigung ihres männlichen Rechtsvormunds mehr. Das rasche Tempo der Veränderungen zeigt sich auch daran, dass der Konflikt um die Reisegenehmigung der Hauptfigur Maryam in "Die perfekte Kandidatin" heute bereits veraltet erscheint.

Die Ungleichheit von Frauen und Männern

Die saudische Gesetzesauslegung zementiert nach wie vor die Ungleichheit von Männern und Frauen in Saudi-Arabien. Noch gelten nach saudischer Gesetzesauslegung Frauen ein Leben lang als unmündig und einem männlichen Rechtsvormund unterstellt. Dieser ist in der Regel zunächst der Vater und nach Heirat der Ehemann. Ähnlich wie bei Kindern, hat der Rechtsvormund in entscheidenden Angelegenheiten das letzte Wort. Das Rechtsvormundschaftssystem wird von weiten Teilen der saudischen Bevölkerung als legitime, da islamische Gesellschaftsordnung angesehen. Was als "islamische" Gesellschaftsordnung gilt, ist allerdings unter muslimischen Gelehrten höchst umstritten und die saudische Auslegung weltweit gesehen eine Außenseiterposition. Die herrschende Auslegung des Islams geht in Saudi-Arabien auf den religiösen Reformer Muhammad ibn Abd al-Wahhab (gest. 1792) zurück, der 1744 eine Allianz mit der saudischen Königsfamilie Al Saud einging. Das Zweckbündnis stärkte über Jahrhunderte den Führungsanspruch des saudischen Königshauses, das sich im Gegenzug für die Verbreitung der Lehre Muhammad ibn Abd al-Wahhabs einsetzte.

Religion und Politik in Saudi-Arabien

Das Bündnis von Religion und Politik scheint heute jedoch in Frage gestellt. Die neue politische Führung unter König Salman, der 2015 den Thron bestieg, hat schrittweise die Macht der religiösen Autoritäten in Saudi-Arabien abgeschafft. Der Machtanspruch des autoritären Staates ist heute noch umfassender. Konservative Kleriker wurden mit weltoffenen und moderaten Persönlichkeiten ausgetauscht. Bereits 2016 wurde das Recht der Religionspolizei aufgehoben, Menschen für unsittliches Verhalten zu inhaftieren. Ein weit beachtetes königliches Dekret mahnt die Sittenwächter heute an, sich "höflich und freundlich" zu benehmen. Lange waren sie vor allem dafür bekannt, Frauen zu gängeln, die ihrer Meinung nach den Kleidernormen widersprachen, etwa Nagellack oder keinen Gesichtsschleier (niqab) trugen. Im Jahr 2020 sind die Sittenwächter aus dem öffentlichen Raum verschwunden.

Erneuerung des Landes

Zugeschrieben werden die tiefgreifenden sozialen Reformen dem Kronprinzen Mohammad bin Salman, kurz MBS genannt. Zum ersten Mal in der Geschichte des Königreichs, brach der greise König Salman mit den geltenden Nachfolgeregelungen der saudischen Monarchie und ernannte seinen Lieblingssohn zum Kronprinzen. Damit geht die Führung des autoritären Staates an eine neue Generation über.

In Saudi-Arabien gilt der heute 34-jährige Mohammad bin Salman vielen in seiner Generation als Visionär und Hoffnung des Landes. Zwei Drittel der saudischen Bevölkerung sind unter dreißig Jahre alt, gut ausgebildet und haben häufig im Ausland studiert. Saudi-Arabien steht bei der Nutzung neuer Medien global auf Platz eins. Twitter und YouTube haben die klassischen Medien verdrängt. In einem Interview mit dem amerikanischen TV-Sender CBS im März 2019 sprach sich Kronprinz Mohammad dafür aus, dass Frauen in Saudi-Arabien nicht unbedingt den landestypischen schwarzen Vollschleier (genannt 'abaya) tragen müssen. Lediglich "sittsam" und "respektvoll" solle die Kleidung von Frauen sein. Im Dezember 2019 wurde die Geschlechtertrennung in Familien- und Männersektionen, die bis dahin das öffentliche Leben in Saudi-Arabien in allen Bereichen prägte, und die man zum Beispiel bei den Wahlveranstaltungen im Film "Die perfekte Kandidatin" sieht, abgeschafft. Restaurants, Cafés, Einkaufspassagen, aber auch Ministerien, Behörden und der Arbeitsplatz dürfen heute – zumindest offiziell – nicht mehr geschlechtergetrennt ausgerichtet werden. Das spiegelt sich auch in "Die perfekte Kandidatin" wider: Als Ärztin arbeitet Maryam im Krankenhaus selbstverständlich mit Männern zusammen.

Der Preis für die gesellschaftliche Öffnung ist jedoch hoch. Die saudische Regierung geht heute repressiver denn je gegen jede Form von öffentlicher Kritik vor. Der Kronprinz zementiert seinen absoluten Machtanspruch, indem er selbst Kritiker aus der eigenen Familie in spektakulären Aktionen inhaftieren lässt. Seit 2015, kamen gesellschaftliche Akteure und Akteurinnen jedweder Gruppierung, darunter bedeutende Frauenrechtsaktivistinnen, auf unabsehbare Zeit und oft ohne Anklage ins Gefängnis. Im Oktober 2018 wurde Jamal Kashogji, saudischer Journalist und Sympathisant der in Saudi-Arabien verbotenen Muslimbruderschaft, im saudischen Konsulat in Istanbul brutal ermordet. Die für 2019 geplanten Gemeinderatswahlen, auf die "Die perfekte Kandidatin" anspielt, da diese seit 2015 auch (erstmals) Frauen zur Wahl und Kandidatur zuließen, sind auf unabsehbare Zeit verschoben.

Eine Gesellschaft vor der Zerrreißprobe

Seit 2014 zwingt die Talfahrt des Ölpreises die saudische Wirtschaft in die Knie. Arbeitslosigkeit, Geldsorgen, und hohe Lebenserhaltungskosten prägen heute das Leben vieler Menschen im Land. Der Reformkurs des Kronprinzen soll in erster Linie helfen, die Wirtschaft auf einen neuen Kurs zu bringen. Statt abhängig von Erdöl soll die saudische Wirtschaft diversifiziert und damit robust werden. Die Öffnung für Tourismus- und Unterhaltungsindustrie soll helfen, die Wirtschaft anzukurbeln, entsprechend werden insbesondere Großveranstaltungen im Bereich von Kunst, Kultur und Sport ins Land geholt.

Für die Gesellschaft ist das eine Zerreißprobe. Kulturveranstaltungen werden umfassend abgesichert und das Gefahrenbewusstsein, dass radikale Gegner Anschläge auf Konzerte planen könnten, ist hoch. Auch Maryams Vater, der im Film als Musiker durchs Land tourt, ist solchen Anfeindungen ausgesetzt. Während die einen auf Twitter den Verfall der öffentlichen Moral beklagen, feiern die anderen den Aufbruch in die Moderne. Die Konflikte, die sich daraus ergeben spalten Familien und Generationen.

Filmland Saudi-Arabien

Für Filmschaffende ist der neue politische Kurs eine Chance. Seit 2018 gibt es wieder Kinos in Saudi-Arabien. Für 2020 ist das erste, saudische Filmfestival in der Stadt Jidda geplant. Zahlreiche staatliche Initiativen, Stipendienprogramme und Preisgelder helfen heute gerade Frauen, im Filmgeschäft Fuß zu fassen.

Sie bekommen heute Genehmigungen für Filmdrehs und Kamerafrauen und andere weibliche Mitglieder der Filmcrew dürfen im öffentlichen Raum arbeiten. Obwohl Handys, Selfies und Fotografieren im öffentlichen Leben außerordentlich präsent sind, empfinden viele Menschen in Saudi-Arabien das Filmen an sich nach wie vor als fremde und bedrohliche Praktik. Als es während der Dreharbeiten zu "Die perfekte Kandidatin" zu Protesten kam, habe sie die Polizei gerufen, erzählt Regisseurin Haifa Mansour in einem Interview mit dem Branchenmagazin Screendaily. Aber sie betont, das solche Vorkommnisse selten gewesen seien.