Kerstin Knopf ist Professorin für North American Postcolonial Literary and Cultural Studies an der Universität Bremen. Zuvor studierte sie unter anderem American and Canadian Literatures and Cultures in Greifswald, Göteborg, Los Angeles und an der First Nations University in Regina, Kanada. Sie promovierte zum Thema "Decolonizing the lens of power: Indigenous Films in North America".

kinofenster.de: Zur Geschichte Nordamerikas gehört die gewaltsame Kolonisierung der indigenen Bevölkerung des Landes. Wie wird dieser Teil der nordamerikanischen Geschichte heute erinnert?

Kerstin Knopf: In den USA findet die Kolonialgeschichte im öffentlichen Diskurs wenig Beachtung, also die Tatsache, dass die gesamte US-amerikanische Gesellschaft auf gestohlenem Land aufgebaut ist. Anders ist es im akademischen Diskurs. Dort ist die koloniale Vergangenheit stets präsent, in der Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft und vor allem in den Indigenen Studien und den neu begründeten Settler Colonial Studies, die sich speziell mit Formen des Kolonialismus befassen, bei der Siedler die angestammte Bevölkerung verdrängen und unterdrücken. Und natürlich ist zuallererst der indigenen Community bewusst, dass ihre heutigen Lebensbedingungen Folgen der Kolonisierung und der Assimilierungspolitik sind. Es gibt in den USA seit den 1970er-Jahren landesweiten und öffentlich wirksamen politischen Aktivismus von indigenen Gruppen, in Kanada seit den 1990ern. In Bezug auf den öffentlichen Diskurs muss man aber zwischen den USA und Kanada unterscheiden. Das zeigt sich unter anderem an der Entschuldigung der kanadischen Regierung gegenüber indigenen Menschen, die in sogenannte Residential Schools gebracht wurden, mit dem Ziel sie zu assimilieren.

kinofenster.de: Das war 2008. Die US-Regierung hat sich im Jahr 2010 für ähnliche Praktiken der Zwangsassimilierung entschuldigt. Lässt sich das vergleichen?

Kerstin Knopf: Die Entschuldigung der US-Regierung war nicht gleichwertig und hat kaum Widerhall im öffentlichen Diskurs gefunden. In Kanada gab es eine Staatszeremonie mit einer Rede des damaligen Premierministers Stephen Harper, außerdem wurde eine Untersuchungskommission zur nationalen Aufarbeitung eingerichtet (Truth and Reconciliation Commission). Hinzu kamen Reparationszahlungen, 10.000 Dollar pro Person für das erste Jahr in einer solchen Schule und 3.000 Dollar für jedes weitere Jahr. Opfer von physischer und sexueller Gewalt bekamen höhere Summen. All das gab es auf nationaler Ebene in den USA bisher nicht, obwohl diese Politik der Assimilierung parallel in beiden Ländern stattgefunden hat.

kinofenster.de: Was ist im Rahmen dieser Assimilierungspolitik passiert?

Generationen von indigenen Kindern wurden zwangsweise in die meist christlich geprägten Boarding Schools (USA) beziehungsweise Residential Schools (Kanada) gebracht. Sie wurden von ihren Eltern getrennt, ihrer Kultur entfremdet, duften ihre Sprache nicht mehr sprechen und kulturelle Praktiken nicht mehr pflegen. Wenn sie dagegen verstoßen haben, wurden sie drakonisch bestraft. Auch sexueller Missbrauch hat dort systematisch stattgefunden. Viele Kinder sind an diesen Schulen gestorben, aufgrund der strengen Erziehung sowie der schlechten Verpflegung und Hygiene. Diese Erfahrungen haben generationsübergreifend schwere Traumata hinterlassen. Die sozialen Folgen in den indigenen Communities zeigen sich bis heute in Form von dysfunktionalen Familien, Drogen- und Alkoholmissbrauch.

kinofenster.de: Das Bild der Native Americans wurde nahezu weltweit wesentlich durch das Filmgenre Western geprägt.

Kerstin Knopf: Nicht nur das, der Zum Inhalt: Western bestimmte auch wie kein anderes Zum Inhalt: Filmgenre lange Zeit das Bild der USA. Bei der Darstellung indigener Menschen wurden bestimmte Stereotype transportiert, die die Filme aus schriftlichen Diskursen übernommen haben: Da gibt es zum einen den "blutrünstigen Wilden", zum anderen den "edlen Wilden". Der "blutrünstige Wilde" ist darauf aus, Kutschen oder Siedlergemeinschaften zu attackieren, Menschen umzubringen, Kinder zu entführen und Frauen zu vergewaltigen. Der "edle Wilde" ist hingegen eine romantisierte, oft auch erotische Figur: ein Naturliebhaber, der traditionsbewusst seine Kultur auslebt. Das war und ist eine Projektionsfläche für westliche Europäer/-innen. Das Phänomen zeigt sich in Deutschland an der Beliebtheit der Karl-May-Bücher und ihrer Verfilmungen, an den sogenannten Indianerfilmen der DEFA, an den immer noch stattfindenden Karl-May-Festspielen und den Indianerkostümen an Fasching. Hartmut Lutz hat hierfür den Begriff "Indianertümelei" geprägt.

kinofenster.de: "Der mit dem Wolf tanzt" aus dem Jahr 1990 wollte dieses Bild erklärtermaßen revidieren. Gelingt es dem Film, indigene Menschen authentischer darzustellen?

Kerstin Knopf: Der Film wurde vermarktet als revisionistischer Western, der sensibel mit indigenen Kulturen umgeht und zum Großteil mit indigenen Darsteller/-innen arbeitet. Er nutzt natürlich auch die Lakota-Sprache, allerdings sind die Übersetzungen teilweise holprig, was zu Lachern beim indigenen Publikum geführt hat. In dem Zum Inhalt: Dokumentarfilm "Reel Injun" (Neil Diamond, Catherine Bainbridge, Jeremiah Hayes, USA 2009) erklären die indigenen Darsteller/-innen zudem, dass sie niedrige Gagen bekommen haben und im Vergleich zu den weißen Darsteller/-innen benachteiligt wurden. Und wenn Sie sich Zum Filmarchiv: "Der mit dem Wolf tanzt" genauer anschauen, gibt es auch dort die beiden Pole, zwischen denen die Darstellung von indigenen Menschen oszilliert: auf der einen Seite die blutrünstigen Pawnee, auf der anderen Seite die Lakota als "edle Wilde", mit denen sich der weiße Held verbündet. Die polarisierte Darstellung zeigt sich anhand der beiden Stämme.

kinofenster.de: Wird der Film als Repräsentation von indigenen Menschen noch diskutiert?

Kerstin Knopf: Es gibt mittlerweile so viele Beispiele für Selbstrepräsentationen durch indigene Filmschaffende, dass in diesem Zusammenhang über "Der mit dem Wolf tanzt" nicht mehr viel geredet wird. Seit den späten 1990er-Jahren gibt es einen Boom des indigenen Kinos, in den USA und in Kanada, aber auch in Neuseeland, Australien sowie teilweise in Lateinamerika und den Philippinen.

kinofenster.de: Seit wann gibt es indigenes Filmschaffen?

Kerstin Knopf: Man findet schon in der Hollywood-Stummfilmzeit (Glossar: Zum Inhalt: Stummfilm) zwei indigene Regisseure und Produzenten, James Young Deer und Edwin Carewe. Deren Filme, darunter auch Western, sind aber gar nicht als indigenes Filmschaffen wahrgenommen worden, weil sie sich an die in Hollywood vorherrschenden Repräsentationen angelehnt haben. Deutlich später folgten einige Filme von nicht-indigenen Regisseuren, die sich mit indigenen Themen beschäftigt haben, etwa "House Made of Dawn" (Richardson Morse, USA 1972). In den 1980er-Jahren gab es dann erste indigene Filme aus Neuseeland, Papua-Neuguinea und Norwegen. Der erste große indigene Film aus den USA, der auch international wahrgenommen wurde, war "Smoke Signals" (Chris Eyre, USA/CA 1998). Der Film rekurriert in einer bekannt gewordenen Zum Inhalt: Szene parodistisch auf "Der mit dem Wolf tanzt" . Kurz darauf kamen in Kanada die Mini-Serie "Big Bear" (Gil Cardinal, CA 1999) und "Atanarjuat: The Fast Runner" (Zacharias Kunuk, CA 2001) heraus, der durchgängig die Inuit-Sprache Inuktitut benutzt (mit Untertiteln) und in Cannes die Goldene Kamera gewinnen konnte. Seit dieser Zeit sehen wir eine sprunghafte Entwicklung. Damals erschienen weltweit etwa zwei indigene Filme pro Jahr, heute sind es zwölf bis zwanzig Langfilm-Produktionen jährlich.

kinofenster.de: Was zeichnet indigene Filmproduktionen aus?

Kerstin Knopf: Indigene Filme dekolonisieren die historischen Kino-Diskurse. Das fängt mit der Beschäftigung von indigenen Personen vor und hinter der Kamera an. Inhaltlich geht es oft um die Aufarbeitung der kolonialen Geschichte, die Darstellung der eigenen Kultur, aber auch um zeitgenössische Themen: die Beziehung zu den Siedlerstaaten und zum gesellschaftlichen Mainstream, soziale und politische Probleme. Die Dokumentarfilmproduktion indigener Filmschaffender ist dabei exponentiell höher als die Spielfilmproduktion. Auf dem kürzlich stattgefundenen "Indianer-Inuit – Das Nordamerika Filmfestival" in Stuttgart lief aber auch ein Kinderfilm: "Tia and Piujuq" (CA 2018) von Lucy Tulugarjuk. Da geht es um die Tochter von syrischen Einwanderern in Kanada, die ein Buch mit Inuit-Zeichnungen geschenkt bekommt. In ihrer kindlichen Fantasie stellt sie sich eine Freundin in der Arktis vor. Auf ihren Zeitreisen in die Arktis lernt sie über die Inuit-Kultur und deren Vorfahren. Solche Filme gehen jetzt aus der indigenen Kultur heraus und fokussieren transnationale oder auch transindigene Aspekte, was sicherlich zunehmend in indigenen Filmen zu sehen sein wird.

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