Kategorie: Hintergrund
Eine Frage der Ehre: Siyars Wandlung im Spiegel seiner Freundschaft mit Evin
Blicke und Gesten sagen in "Der Junge Siyar" mehr als tausend Worte. An ihnen lässt sich auch der Entwicklungsprozess Siyars schön beobachten.
Die zusammengekniffenen Augen, über denen sich eine Zornesfalte abzeichnet, die tief in die Stirn fallenden Haare, das bis oben zugeknöpfte Hemd, sein steifer Gang: Alles an Siyar signalisiert zunächst Abschottung – und Entschlossenheit. „Mein Auftrag“ nennt Siyar den Plan, mit dem Ehrenmord an seiner Schwester das Ansehen der Familie wiederherzustellen. Doch so, wie Regisseur Hisham Zaman die unbeholfene, etwas hölzerne Körpersprache seiner Titelfigur filmt, wirkt dieser Auftrag keineswegs selbstbestimmt: Die Tradition und das damit verbundene Wertesystem wurden Siyar ebenso vererbt wie seine Position als Oberhaupt der Familie, die er als ältestes männliches Familienmitglied, noch über der Mutter stehend, einzunehmen hat.
Bürde der Autorität
Siyar, der äußerlich als Zeichen seiner Männlichkeit nicht viel mehr vorzuweisen hat als ein bisschen Flaum über der Oberlippe, trägt an dieser Verantwortung sichtlich schwer. Wenn er seine Geschwister mit strengem Ton zurechtweist oder im Kreis einer Männergesellschaft die Hochzeit der um einige Jahre älteren Schwester arrangiert – ein Gespräch „von Mann zu Mann“ nennt es der Vater des Bräutigams –, wirkt der Teenager immer auch ein wenig unsicher in der Rolle der männlichen Autorität. Siyar kann sie ebenso wenig ausfüllen wie die viel zu große Lederjacke, die ihn wie ein Panzer umhüllt.
Wertesystem ohne Alternative
Doch auch wenn Körpersprache und Kleidercode noch so sehr von Siyars Zwängen erzählen: Ihm selbst scheinen diese nie bewusst zu sein. Das Konzept von Ehre und weiblicher Unterordnung wird nicht infrage gestellt. Im Mikrokosmos seines Dorfes existieren keine Modelle für eine alternative Denk- oder Lebensweise. In einer frühen Szene des Films erzählt er einem Mann mit ausdrucksloser Miene von seinem Mordplan. Auf der langen und gefährlichen Reise nach Europa wird sein traditionelles Weltbild jedoch immer mehr aufweichen. Treibende Kraft und Spiegel seiner inneren Wandlung ist das Straßenmädchen Evin.
Ein neues Frauenbild
Bei seiner Ankunft in Istanbul vergrößert sich Siyars Welt zum ersten Mal. Es ist ein Kulturschock. Schon auf dem Busbahnhof wird er mit einem radikal anderen Frauenbild konfrontiert. Entgeistert sieht er einer rothaarigen Frau im kurzen Kleid nach, und auch im Café des Hotels Golden Sky, in dem Siyar unterkommt, betrachtet er die Frauen in ihren knappen Tops und Leggings befremdet und abschätzig. Während dieses stark feminisierte Frauenbild scheinbar bedrohlich auf ihn wirkt, fasst er zu der jungenhaften Evin schnell Vertrauen. Auch hinter ihrem Auftreten als „Tomboy“ – sie trägt Hose, Schiebermütze und kurze Haare – steht eine Rolle, die sie vor den Gefahren der Straße schützt und ihr Respekt verschafft. Evin ist in ihrem Umfeld eine respektierte Autorität, eine „Chefin“. Als Siyar von ein paar Jungen verprügelt wird, reicht ein Wort von ihr, damit diese von ihm ablassen. Erstmals sieht Siyar in Evin eine Geschlechterordnung verkörpert, die für eine Frau nicht automatisch nur aufgrund ihres Geschlechts eine untergeordnete Position vorsieht.
Kommunikation durch Blicke
Die Annäherung zwischen Siyar und Evin erzählt Regisseur Hisham Zaman in erster Linie über Blicke, Körperhaltungen und Gesten. Schon bei der ersten Begegnung, als das Mädchen mit einem Komplizen Siyar das Portemonnaie abnimmt, wird diese Bedeutungsebene eingeführt. Als er Evin die Mütze vom Kopf reißt und erkennt, dass sich darunter ein Mädchen verbirgt, sind beide für Sekunden wie erstarrt. Siyar wendet sich jedoch nicht ab oder reagiert mit Aggression, im Gegenteil: Er reicht ihr die Hand. Diese erste Geste des Entgegenkommens – und der Kommunikation überhaupt – gibt für die Beziehung der beiden den Ton an. Im Laufe des Films löst sich auch Siyars körperliche Anspannung zunehmend. Sein Gesichtsausdruck wird offener und formt sich nun öfter zu einem Lächeln. Auch sein Gang verändert sich: Mit Evin schlendert er durch die Straßen. Wie viel Kind noch in ihm steckt, zeigt sich, wenn er sich mit ihr kumpelhaft kabbelt. Mit Evin muss er nicht vorgeben, ein Mann zu sein.
Siyar und Evin werden auf der Reise in den Westen zu gleichberechtigten Gefährten. Zaman beschreibt den inneren Wandel Siyars nicht in langen Dialogen. Evin lebt ihm stattdessen etwas Neues vor. Sie erleben die Reise – bei allen Strapazen – auch als verbindende Erfahrung. Aussagekräftig ist im Film daher die nonverbale Ebene. Ihre Beziehung ist weder laut noch wortreich. Meist sind sie im stillen Miteinander zu sehen: Sie kommunizieren durch Blicke, vorsichtige Berührungen und Umarmungen. Einmal lässt Zaman die beiden bei einem Wiedersehen ganz langsam aufeinander zugehen, während sie sich intensiv anblicken. In einer anderen Szene singt Evin Siyar ein Lied aus ihrer Kindheit vor.
Siyar lernt Mitgefühl
Als die griechische Polizei die Flüchtlinge im Wald aufgreift, demonstriert Siyar zum ersten Mal Empathiefähigkeit. Er, der noch immer weit davon entfernt ist, mit der eigenen Schwester mitzufühlen, kann nicht mit ansehen, wie Evin leidet, als sie aufgefordert wird, sich vor den Männern auszuziehen. Um sie zu schützen, verrät er die Schmuggler. Später registriert er ihre emotionale Erschütterung, die die Begegnung mit dem Vater auslöst. Durch seine wachsende Anteilnahme entwickelt sich Siyar für die Zuschauenden zu einer Identifikationsfigur. Sein Handeln offenbart zunehmend, dass der Plan, die eigene Schwester zu töten, mit seinem Charakter eigentlich unvereinbar ist.
Gefühl von Verliebtheit
Aber auch äußerlich spiegelt sich Siyars charakterliche Veränderung in Evin. In Berlin angekommen, beeindruckt sie ihn plötzlich mit rosafarbenen Hosen und einer schmal geschnittenen, karierten Jacke: „Du siehst aus wie ein Superstar aus dem Fernsehen“, bemerkt er überrascht. In das gleichermaßen freundschaftliche wie geschwisterliche Verhältnis beginnt sich ein scheues Gefühl von Verliebtheit zu mischen. Den ersten flüchtigen Kuss nimmt Siyar wie ein Geschenk an, über das er sich aufrichtig freut. Doch seine traditionelle Verwurzelung ist zunächst stärker als die Freundschaft mit Evin. Darin bleibt Siyar eine tragische Figur. Bis zuletzt steht er mit sich und seinen Gefühlen im Widerspruch. Noch der letzte Abschied auf dem verschneiten Bahnhof erzählt von diesem inneren Konflikt.