Die Soziologin Ayfer Yazgan promovierte 2009 am Institut für Kriminologische Sozialforschung der Universität Hamburg. Ihre Promotionsschrift Zum externen Inhalt: Morde ohne Ehre – Der Ehrenmord in der modernen Türkei. Erklärungsansätze und Gegenstrategien (öffnet im neuen Tab) (2010 im Transcript Verlag erschienen) gilt heute in der interdisziplinären Forschung zum Thema "Ehrenmord" als Standardwerk. Darüber hinaus fungierte Ayfer Yazgan als wissenschaftliche Beraterin bei Feo Aladags Film Zum externen Inhalt: Die Fremde (öffnet im neuen Tab).

Anmerkung: Aus Sorge vor Anfeindungen hat Ayfer Yazgan die Redaktion gebeten, kein Bild von ihr zu veröffentlichen. Wir haben ihrem Wunsch natürlich entsprochen. Stattdessen veröffentlichen wir an dieser Stelle ein Motiv der Menschenrechtsorganisation Zum externen Inhalt: Terre des Femmes (öffnet im neuen Tab), die sich weltweit für das Selbstbestimmungsrecht von Frauen einsetzt und schon viele Kampagnen gegen Genitalverstümmelung, Zwangsheirat und Zwangsprostitution organisiert hat.


Frau Yazgan, der Begriff „Ehrenmord“ wurde 2005 in Deutschland für das „Unwort des Jahres“ nominiert. Wie stehen Sie zu der Ambivalenz des Begriffs, der im Grunde ja die Täterperspektive aufgreift?

Der Begriff ist in der Tat ambivalent, darum habe ich auch einen Buchtitel gewählt, der mit diesem Begriff spielt und ihn damit hinterfragt. Der Begriff wird kontrovers diskutiert, weil er suggeriert, dass das Motiv des Verbrechens gerechtfertigt ist. Darum geht es natürlich nicht. Es ist dennoch wichtig, dass das Tatmotiv der Ehre deutlich wird, auch in Abgrenzung zur Blutrache oder dem Affektmord.

Welche sozialen und moralischen Vorstellungen verbergen sich hinter dem Ehrbegriff? Er taucht vornehmlich in patriarchalischen Gesellschaftsformen auf.

Der Ehrbegriff ist kultur- und zeitbedingt. Er hat eine stark gemeinschaftsbezogene Dimension, das heißt, die Ehre eines Kollektivs – einer Familie oder einer Stammesstruktur – kann durch ein Individuum verletzt werden. Daher ist es wichtig, dass das Ehrprinzip als Konstrukt verstanden wird, weil es in solchen Gemeinschaften häufig als Mittel zur sozialen Kontrolle missbraucht wird. Das bedeutet, man definiert sich über die persönliche Ehre, man wertet sich auf, man grenzt sich von anderen ab, kurz: Man unterteilt die Gesellschaft in Klassen. Diese Vorschriften geben den Mitgliedern der Gemeinschaft eine Verhaltenssicherheit vor.

Warum hat der Ehrbegriff gerade in mediterranen Kulturen noch immer einen so hohen Stellenwert?

In vielen Gesellschaften hat das Ehrprinzip eine existenzielle Bedeutung. Die meisten Länder, in denen der Ehrenmord noch Akzeptanz genießt, sind ökonomisch schwach aufgestellt, darum nimmt die Ehre eine zentrale Rolle im Alltag der Betroffenen ein: als "soziales Kapital", wie es der Soziologe Pierre Bourdieu einmal nannte. Die Menschen haben vielleicht kein Geld, keine Bildung, keine gesellschaftliche Stellung – aber sie erfahren in ihrem sozialen Umfeld aufgrund ihrer Ehre Respekt. Viele Täter haben in Befragungen ausgesagt, dass sie durch den Mord ihrem sozialen Tod entkommen wollten.

Das Thema „Ehrenmorde“ wird in westlichen Medien häufig als religiös motiviert dargestellt. Wie bewerten Sie diese Darstellung?

Das Prinzip der Ehrenmorde reicht in der Geschichte weit zurück, lange vor die Entstehung der Weltreligionen. Nichtsdestoweniger spielen religiöse Wertvorstellungen oder falsche Überlieferungen, die Ehrenmorde rechtfertigen sollen, hinein. Eine Häufung der Ehrenmorde ist zum Beispiel in islamisch geprägten Gesellschaften zu beobachten. Aber auch der Islam betrachtet die Tötung eines Menschen wie alle anderen Weltreligionen als die größte Sünde. Zudem ist die machtpolitische Konstellation in dem jeweiligen Land von Bedeutung - inwieweit die Ehrenmorde sowohl in der Gesetzgebung als auch in der jeweiligen Gesellschaft sanktioniert werden. Religiöse Vorstellungen sind bei Weitem nicht die einzige Ursache.

Welche anderen Faktoren spielen eine Rolle?

Wichtig ist mir, dass überlieferte, religiöse Wertvorstellungen nicht zur Hauptursache bei Ehrenmorden erklärt werden oder dass der Islam nicht als die Hauptursache stigmatisiert wird. Die verschiedenen Ursachen sollten stets in ihrer ganzen Komplexität betrachtet werden: die patriarchalischen Familienstrukturen, die sozioökonomischen Bedingungen, die psychologischen Faktoren und der Ehrbegriff als oberste Lebensmaxime. Traditionen genießen in einem solchen sozialen Umfeld einen hohen Stellenwert. Daher habe ich bei meinen Forschungen bewusst eine interdisziplinäre Sichtweise gewählt, um die einzelnen Ursachen in ihrer Gesamtheit und ihrer Wechselwirkung zueinander zu analysieren.

Steckt dahinter auch die Kompensation eines Minderwertigkeitsgefühls? Sind Ehrenmorde also eine Reaktion auf den Konflikt zwischen traditionellen Werten und moderner Lebensweise?

Dieser kulturelle Konflikt gewinnt tatsächlich an Bedeutung, wie man an der wachsenden Zahl von Ehrenmorden in Großstädten und der Diaspora sehen kann. Die Mehrheit der Täter stammt aus eher dörflichen Gegenden oder hat zumindest diesen kulturellen Hintergrund. Sie finden sich oft in ihrem neuen, eher westlich geprägten Umfeld nicht zurecht und haben aufgrund ihres meist niedrigen Bildungsstands kaum soziale Aufstiegschancen. Des Weiteren wird ihre Orientierungslosigkeit verstärkt, weil sie sich schwer an die westlich geprägte Mehrheitsgesellschaft anpassen können. Dies führt in den meisten Fällen dazu, dass sich die Betroffenen auf ihre traditionellen Werte zurückziehen, die ihnen Verhaltenssicherheit geben. Mitunter sind ihre Wertvorstellungen nach einigen Jahren in der Fremde noch konservativer ausgeprägt als die ihrer Verwandten in der Heimat.

Geht auch Druck von der Gemeinschaft aus?

Der soziale Druck ist immens, gerade wenn der gesellschaftliche Status einer Familie auf dem Spiel steht. Niemand steht morgens auf und beschließt, seine Schwester umzubringen. Man muss sich vor Augen halten, dass eine Ehrverletzung vom sozialen Umfeld stark sanktioniert wird. Die Betroffenen werden Opfer sozialer Diskriminierungen, die sich langsam steigern. Mitunter können zwischen der Ehrverletzung und dem Ehrenmord Wochen oder gar Monate liegen.

Ist der soziale Druck größer als die Überzeugung der Täter?

Die Angst vor dem "sozialen Tod", wie es oft heißt, ist definitiv stark ausgeprägt. Eine Theorie besagt, dass der Täter versucht, seine Schuld zu neutralisieren. Das heißt, er weist die Verantwortung für die Tat von sich und schiebt die Schuld auf eine höhere moralische Instanz, zum Beispiel das Ehrprinzip. Oder er behauptet, das Opfer sei schuld. Es gibt viele kognitive Strategien, Verantwortung abzuweisen. Wir erleben oft, dass viele Täter noch lange nach der Tat keine Reue zeigen. Der Schutz der Familienehre geht über alles.