Nach dem Studium der Szenischen Zum Inhalt: Regie debütierte Burhan Qurbani mit dem Zum Inhalt: Spielfilm "Shahada" (DE 2010). Nach "Wir sind jung, wir sind stark" (DE 2015) inszenierte er mit Zum Filmarchiv: "Berlin Alexanderplatz" die Zum Inhalt: Adaption des gleichnamigen Romans von Alfred Döblin aus dem Jahr 1929.

kinofenster.de: Wie sind Sie auf den Stoff Berlin Alexanderplatz gestoßen?

Burhan Qurbani: Alfred Döblins Roman hat mich mehr als ein halbes Leben beschäftigt. Er war ausführliches Thema im Deutsch-Leistungskurs und Prüfungsthema. Jedoch waren mir als Jugendlicher andere Dinge wichtiger: Knutschen, auf Partys zu gehen und möglichst schnell das Abitur hinter mich zu bringen. Berlin Alexanderplatz hallte jedoch immer nach. Als ich 2016 nach Berlin zog, entdeckte ich in einem der Umzugskartons die Abiturmaterialien und habe wieder in das Buch reingelesen. Ich fand es nach wie vor nicht leicht zugänglich, was mich aber nicht vom Weiterlesen abhielt. Eine filmische Adaption schwebte mir lange vor, ich wusste aber, dass sich das ohne einen besonderen Aufhänger kaum jemand anschaut. Besonders beim Spazieren im Park Hasenheide dachte ich über Modernisierungsmöglichkeiten nach. Dort sah ich junge Schwarze und es machte Klick: Sie sind wie Franz Biberkopf am Rand der Gesellschaft, werden kaum wahrgenommen, beziehungsweise stigmatisiert.

kinofenster.de: Der ehemalige Kleinkriminelle Franz Biberkopf lebt Ende der 1920er-Jahre in einer Zeit, in der soziale Durchlässigkeit kaum gegeben war. Inwieweit lässt sich das in die heutige Zeit übertragen?

Burhan Qurbani: Ich glaube, dass auch heutzutage sehr viel Glück dazu gehört, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Meine Eltern sind 1980 mit zwei Koffern aus Afghanistan nach Deutschland gekommen. Sie flüchteten zwei Tage, bevor die Rote Armee in Kabul einmarschierte. Sie hatten de facto nichts, als sie in Deutschland ankamen. Heute sind sie wie ihre Kinder Teil der Mittelschicht. Die soziale Durchlässigkeit kann funktionieren. Es ist mir aber bewusst, dass das nicht selbstverständlich ist. Für Francis, den Protagonisten im Film, bleibt diese soziale Durchlässigkeit unerreichbar. Denn er ist nicht nur ein Geflüchteter, sondern auch ein Mensch, der ohne Papiere in Deutschland keinen Status hat. Er wird auf legalen Weg weder Geld noch Ansehen erlangen.

kinofenster.de: Beides verspricht ihm der Drogendealer Reinhold. Wie im Roman kehrt Francis immer wieder zu ihm zurück, obwohl er in der Beziehung zu Mieze eine neue Konstante gefunden hat. Woher rührt diese Anziehung?

Burhan Qurbani: Es ist die Hybris – das Streben nach mehr. Franz Biberkopf sehnt sich nach Schicksal und gesellschaftlichem Aufstieg. Letzteres ist im Film ähnlich angelegt. Reinhold verspricht Francis mehr als eine ehrliche Ankunft und eine neue Heimat: erst einen Fernseher und dann sehr viel Geld. Psychologisch kann man sagen: Mieze symbolisiert Eros, Reinhold Thanatos, um das zu erklären.

kinofenster.de: Aber ist dieses Streben nicht legitim?

Burhan Qurbani: Unbedingt! Der Wunsch nach einem besseren Leben ist absolut nachvollziehbar und vollkommen legitim. Im Film gibt es eine Zum Inhalt: Szene, die im Buch nicht vorkommt. Francis und Reinhold sitzen in der Badewanne. Reinhold sagt, dass es ein Privileg sei, hier in Europa zu leben. Aber man lebe auf Kosten der restlichen Welt. Er suggeriert Francis, dass dessen Anspruch "gut zu sein" nicht aufgehen kann. Weil die Welt nicht gut sei. Reinhold wirkt hier als Manipulator, der ein Schwarz-Weiß-Bild zeichnet, das nicht stimmt. Die Zuschauenden sehen später in einer Einstellung, dass Reinhold die "Hure Babylon" als Tätowierung auf dem Arm trägt. Diese biblische Allegorie kommt auch im Roman vor. Sie steht für die Verführung der Gläubigen. Man muss aber für ein besseres Leben den moralischen Kompass nicht verlieren.

kinofenster.de: Gab es die Überlegung, das Schicksal Geflüchteter erzählerisch breiter anzulegen?

Burhan Qurbani: Die gab es in der Tat. Wir haben in einer Einrichtung sehr viele Interviews mit Menschen geführt, die auf die Bewertung ihres Aufenthaltsstatus’ durch die Behörden warten. Sie haben die bürokratischen Prozesse sehr deutlich gemacht. Wir hätten das aber nur anreißen können und wären ihnen nicht gerecht geworden. Wir mussten die dramaturgische Entscheidung treffen, uns auf den Plot des Romans zu konzentrieren.

kinofenster.de: Eine Flüchtlingsunterkunft ist auch einer der Schauplätze (Glossar: Zum Inhalt: rehort/Set) Ihres Films. Anders als im Roman befinden sich insgesamt aber nur wenige Schauplätze in der Nähe des Alexanderplatzes. Worin resultiert diese Entscheidung?

Burhan Qurbani: Ich glaube, auch der Titel des Romans bezieht sich weniger auf den realen Ort, sondern vielmehr auf das Herz von Berlin. Eine metaphorische Mitte, die Francis auch im Film magisch anzieht. Dort befindet sich die Baustelle, auf der er zu Beginn illegal arbeitet. Später zieht er zu Reinhold, der unweit des Platzes wohnt. Auch der Club Neue Welt befindet sich dort. Eine wesentlicher Grund für die Regie-Entscheidung, vom Schauplatz Alexanderplatz abzuweichen, ist, dass dieser Ort heutzutage etwas anderes symbolisiert als zu Döblins Zeiten. Heute steht der Platz für Berlin-Mitte. Das ist eher ein Ort der Privilegierten.

kinofenster.de: Warum weichen Sie auch von der Montage-Technik des Romans ab, die durch die Kombination von Eindrücken die Dynamik der Großstadt erzeugt.

Burhan Qurbani: Das Gegenüberstellen von Werbung, Sinneseindrücken und inneren Monologen lässt sich im Film nicht funktional übersetzen. Es nimmt den Fokus von der Geschichte und bläht den Film enorm auf. Unser Rohschnitt (Glossar: Zum Inhalt: Montage) war ohnehin bereits fünf Stunden lang. Es gibt aber eine Szene im letzten Drittel, in der die Bild- und Tonebene nicht mehr synchron laufen. In dieser Zum Inhalt: Sequenz tauchen wir in Reinholds Welt ein und die sollte sich formal deutlich vom Rest unterscheiden. Man hört unter anderem Großstadtimpressionen, obwohl sie nicht zum Bild passen. Das ist eine Reminiszenz an die Montage-Technik des Romans. Wir haben auch viele Elemente des Bildvokabulars übernommen, die christlichen Motive etwa oder die Opfer-Symbolik.

kinofenster.de: Sie haben aber auch eigenes Bildvokabular hinzugefügt, beispielsweise zu Beginn des Films steht die Welt durch eine Zum Inhalt: Kamerabewegung plötzlich Kopf.

Burhan Qurbani: Genau. Und sie kommt erst am Ende des Films wieder ins Gleichgewicht, was die Zum Inhalt: Kameraperspektive verdeutlicht, die von oben auf den Alexanderplatz blickt. Grundsätzlich soll und muss der Film für Zuschauende funktionieren, die den Roman nicht kennen.

kinofenster.de: Was können Jugendliche durch Ihren Film lernen?

Burhan Qurbani: Ich möchte sie ermuntern, den Mut zur eigenen Interpretation aufzubringen, basierend auf ihren individuellen Erfahrungen. Das ist beim Lesen eines Romans genauso richtig und wichtig wie beim Sehen einer filmischen Adaption. Wie meine vorherigen Filmen handelt "Berlin Alexanderplatz" vom Gefühl des Fremdseins und der Sehnsucht nach Heimat. Das ist meine Lesart.