Dr. Cathal McManus ist Dozent im Fachbereich Sozialwissenschaften, Bildung und Sozialwesen der Queen's University Belfast. Er forscht schwerpunktmäßig in den Bereichen Konflikt und Konfliktlösung. Den Nordirlandkonflikt hat er in zahlreichen Artikeln und Vorträgen behandelt.

kinofenster.de: In der dramatischen Eröffnungsszene des Films Zum Filmarchiv: "Belfast" (Kenneth Branagh, GB 2021) werden die Anfänge des Nordirlandkonflikts, der sogenannten "Troubles", im August 1969 dargestellt. Können Sie diese Gewalt in den gesellschaftlichen Kontext der damaligen Zeit stellen?

Dr. Cathal McManus: Wie viele andere Orte erlebte auch das Nordirland der 1960er-Jahre eine Phase der sozialen und kulturellen Umwälzungen. Konzepte wie Bürgerrechte, Gleichberechtigung und die Infragestellung der alten Ordnung prägten auch hier die damalige Zeit. Die Bürgerrechtsbewegung kämpfte für einen sozialen und politischen Wandel, um die soziale Benachteiligung der katholischen Bevölkerung zu überwinden und Beschäftigungsmöglichkeiten sowie einen gerechten Zugang zum Wohnungsmarkt zu eröffnen. Die Proteste orientierten sich vor allem an der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, deren Bilder Tag für Tag über die Fernsehbildschirme in den Wohnzimmern flimmerten. Nach den Bildungsreformen der 1940er-Jahre forderte nun auch die erste Generation katholischer Hochschulabsolvent/-innen ihre Bürgerrechte und den Zugang zu Bereichen ein, die ihnen bisher verschlossen waren.

kinofenster.de: Wie hat die protestantische Gemeinde darauf reagiert?

Dr. Cathal McManus: Die Führung der Unionisten reagierte auf vielerlei Weise besorgt. Misstrauen und fehlende Kompromissbereitschaft hatten die Lage seit vielen Generationen bestimmt. Die Bürgerrechtsbewegung wurde daher als verkappte republikanische Bewegung wahrgenommen. Just als sich die Katholiken um ihren Aufstieg bemühten, setzte der Niedergang der Großindustrie in Belfast ein und Angehörige protestantischer Familien, die seit Generationen in den Schiffswerften gearbeitet hatten, fanden keine Arbeit mehr. Die protestantische Arbeiterklasse fühlten sich vernachlässigt und bedroht. Diese Zusammenhänge muss man verstehen, um einige der Reaktionen im Film nachvollziehen zu können.

kinofenster.de: Inwiefern liefert der Film ein realistisches Porträt des Lebens im Belfast jener Zeit?

Dr. Cathal McManus: Der Film zeigt, wie die Menschen ihr Leben trotz der "Troubles" meisterten, und verweist damit auf Spannungen, die es tatsächlich gab. Ein Beispiel dafür ist die Figur des Billy Clanton, der als knallharter Loyalist die Auseinandersetzungen mit den Katholiken anführt. Er wird als krimineller Schlägertyp dargestellt, der mit seinem Gewehr durch die Straßen patrouilliert. Hier wird deutlich, wie paramilitärische Kräfte Angst und Schrecken verbreiteten und so innerhalb kurzer Zeit Arbeiterviertel unter ihre Kontrolle bringen konnten. Diese Situation bestimmte den Konflikt maßgeblich und bewegte die Familie letzten Endes zum Wegzug aus Angst vor den allgegenwärtigen Gefahren.

kinofenster.de: Ab welchem Alter wurden Kinder in diese religiösen Auseinandersetzungen hineingezogen?

Dr. Cathal McManus: Das war ungefähr im Alter von Buddys älterem Bruder, also mit 14 oder 15 Jahren. Im Alter von 16 oder 17 Jahren waren sie bereits echte paramilitärische Kämpfer. In dieser Zeit bildeten sich aber in vielen verschiedenen Ländern städtische Gangkulturen heraus. Kinder wurden von diesen Gruppen angezogen, weil sie sich als Opfer des herrschenden Systems fühlten. In Belfast manifestierte sich diese Entwicklung allerdings auf besondere Weise, weil sich diese Gruppen leicht militarisieren ließen. Bei Ausbruch der Unruhen waren es außerdem oft die Kinder, die sich in den Straßen an einer Art Freizeitkampf beteiligten und dabei in die Schusslinie der Polizei oder der Armee oder der Gegenseite gerieten. Übrig blieb eine Generation wütender junger Männer, die auf Rache sann, und genau dazu kam es letzten Endes auch.

kinofenster.de: Welches wichtige Merkmal der damaligen Zeit stellt der Film Ihrer Meinung nach nur unzureichend dar?

Dr. Cathal McManus: Aus meiner Sicht gelingt es dem Film nicht, das Gefühl der allumfassenden Krise, das 1969 von den Menschen insbesondere am Handlungsort des Films im Norden Belfasts Besitz ergriff, wirklich einzufangen. Im Film kommt es am Montag und dann erneut am Dienstag der darauffolgenden Woche zu Ausschreitungen. Doch die Unruhen waren viel allgegenwärtiger. Die sichtbare Präsenz bewaffneter Truppen in den Straßen war ein Schock für die Menschen. Es gab eine vorübergehende Schonphase, in der die Unionisten den Eindruck hatten, die Truppen stünden auf ihrer Seite, während die Katholiken dachten, sie seien zu ihrem Schutz stationiert worden. Diese Phase war allerdings nur von kurzer Dauer.

kinofenster.de: Finden Sie die Darstellung des traditionellen Arbeiterklassemilieus im Film gelungen?

Dr. Cathal McManus: In Belfast gab es schon immer einen Zusammenhalt in kleinen lokalen Gemeinschaften. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stadtviertel war prägend für die eigene Identität. Es war daher ganz entscheidend, in welcher Straße man aufwuchs. Ich finde, der Film zeigt, dass die Menschen aus der Arbeiterklasse damals nicht weit von ihrem Geburtsort weggezogen sind.

kinofenster.de: War die Arbeitsmigration nach England ein Massenphänomen?

Dr. Cathal McManus: Absolut. Es gab gut ausgebildete Fachkräfte, die in den Fabriken und Schiffswerften arbeiteten. Als diese in den 1940er- und 1950er-Jahren nach und nach ihre Tore schlossen, wanderten viele Menschen aus und weniger gut vermittelbare Arbeitskräfte blieben zurück. Die Angehörigen der protestantischen Arbeitsklasse empfanden eine starke Verbindung zur Kultur und Identität Nordirlands. Als sie sich schließlich zum Gehen gezwungen sahen, wollten sie daher um keinen Preis sagen, dies sei für immer. Für die mit antienglischen Ressentiments aufgewachsenen Katholiken war Arbeitsmigration nach England zwar auch eine Möglichkeit, aber keine echte Option.

kinofenster.de: Wie sieht heute die wirtschaftliche Lage in Belfast aus?

Dr. Cathal McManus: Belfast ist fast nicht wiederzuerkennen. Heute präsentiert sich die Stadt modern und weltoffen, mit großen Hotels, Bars, Cafés und fortschrittlichen, gut ausgebildeten Arbeitskräften. Es gibt Jobs in BigTech-Unternehmen oder Callcentern und noch immer einen großen Beamtenapparat. Außerdem hat Belfast vom Wirtschaftswachstum in den Städten der Republik profitiert. Die Stadt hat eine Entwicklung durchlaufen, die auch in anderen europäischen Städten zu beobachten war.

kinofenster.de: Gibt es in der Stadt auch heute noch ein vergleichbares Arbeitermilieu?

Dr. Cathal McManus: Fünf Minuten vom Stadtzentrum entfernt stößt man auf heruntergekommene, wirtschaftlich benachteiligte Viertel. Ob diese Viertel protestantisch oder katholisch sind, kann man nur an den Flaggen erkennen. Es gibt noch immer einen Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten und generationenübergreifende Arbeitslosigkeit. Man muss also gar nicht so sehr an der Oberfläche kratzen, um viele Dinge zu finden, die gleichgeblieben sind. Doch vieles hat sich auch geändert. Es ist nicht mehr so, dass man in der Straße stirbt, in der man geboren wurde. Und wenn man durch ein traditionelles Arbeiterviertel spaziert, sieht man Menschen aus aller Welt, die in Mietshäusern leben, die ständig die Besitzer wechseln.

kinofenster.de: Welchen Einfluss hat der Brexit auf den Konflikt?

Dr. Cathal McManus: Nordirland ist einzigartig. Es ist in vielerlei Hinsicht sowohl irisch als auch britisch. Doch dieser Gedanke gefällt den jeweiligen Gemeinschaften nicht – sie wollen entweder das eine oder das andere sein. Der Brexit zwingt uns, diese Einzigartigkeit anzuerkennen. Einige Unionisten sehen darin ein Problem, weil ein zu großer Unterschied zwischen Nordirland und Großbritannien gemacht wird. Das können sie nicht akzeptieren.

kinofenster.de: Welchen Einfluss wird dies auf die Zukunft Nordirlands haben?

Dr. Cathal McManus: Erhebungen und Meinungsumfragen zeichnen ein sehr komplexes Bild. Die Mehrzahl unserer Gemeinschaft ist inzwischen weder protestantisch noch katholisch. Ein großer Teil unserer Bevölkerung ist liberal, weltoffen und misst konfessionellen Unterschieden keine große Bedeutung bei. Allerdings hat der Brexit auch gezeigt, dass es trotz des Karfreitagsabkommens von 1998 noch immer eine große Gruppe in unserer Bevölkerung gibt, die der Vergangenheit anhaftet, und die Sorge ist, dass dies die militante Fraktion ist. Wir wissen schlicht nicht, wozu diese Gruppe in der Lage ist und wie genau ihre Forderungen lauten.