Kategorie: Hintergrund
Abweichung von der "Norm" - Geschlechteridentität in "Alle Farben des Lebens"
"Alle Farben des Lebens" thematisiert die gesellschaftlichen Vorstellungen von Gender. Der Artikel erläutert, wie unterschiedlich Rays Mitmenschen mit seiner Entscheidung umgehen.
"Warum kann sie nicht einfach lesbisch sein?", seufzt Dolly am Anfang von Zum Filmarchiv: "Alle Farben des Lebens". Damit wäre für Rays Großmutter, die selbst mit einer Frau zusammenlebt, alles bestens. Nur gibt es da ein Problem: Ray lebt als Junge und hat mit seinen 16 Jahren den Wunsch, endlich eine Hormontherapie mit Testosteron zu beginnen, damit der von ihm bewohnte Körper sich so anfühlt und so aussieht, wie es seinem eigenen Empfinden entspricht: ohne Brüste und Menstruation, dafür mit ordentlichen Muckis, die er sich bereits antrainiert. Die Mitschüler/-innen in der neuen Schule sollen sehen, was er in seinen Augen schon lange ist: ein Junge.
Gesellschaftliche Normen
Dollys Reaktion, aber auch die von Rays besorgter Mutter Maggie, die sich um die Zukunft ihres Sohnes sorgt ("Wer wird ihn lieben?", fragt sie panisch), zeigt eines deutlich: Das Thema Gender stößt auch in aufgeklärten Gesellschaften noch immer auf Unverständnis. Es dominiert weiterhin die Überzeugung, dass es nur zwei Geschlechter gibt, die einen Menschen definieren und über seine Rolle in der Gesellschaft entscheiden. Ray leidet darunter, dass sein Geburtsgeschlecht nicht mit dem gelebten und gefühlten Geschlecht übereinstimmt. In "Alle Farben des Lebens" wird diese Ignoranz gegenüber jeder geschlechtlichen oder sexuellen Identität, die von der gesellschaftlich akzeptierten Norm abweicht, durch ein winziges Detail verdeutlicht. Neben den nach Jungen und Mädchen getrennten Schultoiletten hängt ein Propagandaplakat mit dem Slogan "Conserve Humanity" ("Bewahrt die Menschheit") – als würden abweichende Geschlechtervorstellungen den Untergang der Menschheit bedeuten. Logisch, dass Ray da lieber eine Unisex-Toilette aufsucht.
Biologisches und soziales Geschlecht
Doch auch Menschen, die selbst von der heterosexuellen Norm abweichen, tun sich schwer, Rays Geschichte zu begreifen. "Da habe ich mein ganzes Leben lang dafür gekämpft, dass Frauen selbst über ihre Körper bestimmen dürfen, und nun muss ich meine Enkeltochter mit er ansprechen!", meint Dolly einmal verständnislos. Ihr, die sich für das weibliche Selbstbestimmungsrecht einsetzt, erscheint es wie ein Verrat, dass eine Frau freiwillig "die Seiten wechseln“ will. Auch sie muss in einem langsamen Prozess begreifen, dass man sich genauso wenig aussuchen kann, ob man im richtigen Körper geboren wird, wie man sich für eine sexuelle Orientierung entscheidet. Rays kleine Stiefschwester hat den Unterschied zwischen biologischem Geschlecht (das einem bei der Geburt aufgrund primärer Geschlechtsmerkmale zugewiesen wird) und sozialem Geschlecht (das von gesellschaftlichen und kulturellen Einflüssen bestimmt ist) mit kindlichem Scharfsinn verstanden und bezeichnet sich beim gemeinsamen Abendessen als "Mädchen in einem Mädchenkörper".
Jenseits von Geschlechtergrenzen
Auch Rays Mutter Maggie und Dolly fühlen sich mit ihren Körpern und dem Bild, das sich die Gesellschaft von diesen macht, identisch. Sie stellen die Zugehörigkeit zu ihrem biologischen Geschlecht nicht infrage. Diese Identität, in der das biologische und das soziale Geschlecht eines Menschen übereinstimmen, wird auch Cisgender genannt. Sie steht mit dem lateinischen Wort cis für "diesseits der Geschlechtergrenzen" – im Gegensatz zum ebenfalls lateinischen trans für "jenseits, darüber hinaus". Als Trans*person zu leben – das Sternchen steht für die Offenheit der geschlechtlichen Identität, die in kein Schema passt – sagt dabei nichts über die sexuelle Orientierung aus. Ray steht auf Mädchen, doch er könnte ebenso gut schwul oder bisexuell sein. Denn wen man liebt, hat nichts damit zu tun, in welchem Körper man sich zu Hause fühlt. Transgender bedeutet also, sich nicht dem Geschlecht zugehörig zu fühlen, das bei der Geburt anhand äußerer Geschlechtsorgane festgestellt wurde.
Der Begriff Gender, das englische Wort für das soziale Geschlecht (für das biologische Geschlecht gibt es im Englischen das Wort Sex), zeigt an, dass es nicht um biologische Unterschiede geht, sondern um Verhaltensweisen, die die Gesellschaft vorlebt und die als typisch männlich oder typisch weiblich gelten.
Biologie ist kein Schicksal
Schon die Unterstützerinnen der sogenannten Zweiten Frauenbewegung, zu denen vielleicht Dolly und ihre Partnerin Frances gehört haben, skandierten in den 1970er-Jahren die Parole "Biology is not destiny" (Biologie ist kein Schicksal). Auch Ray sagt zu Beginn der Hormontherapie von sich selbst, er sei "ein Junge mit Titten". Doch noch immer fühlen sich viele Menschen überfordert, wenn sich die Welt nicht eindeutig kategorisieren lässt. Gerade das Geschlecht ist eine Kategorie, anhand derer viele Menschen ihr Weltbild ordnen, hat die Genderforscherin Sabine Hark festgestellt. Wer nicht in dieses Schema passt, wird im Alltag oft benachteiligt, im schlimmsten Fall sogar diskriminiert. Eine Gruppe Jugendlicher erniedrigt und verprügelt Ray, weil er nicht eindeutig als Junge oder Mädchen zu identifizieren ist.
Die Regisseurin Gaby Dellal zeigt mit ihrem Film, was trotz guter Absichten alles schieflaufen kann. Ray wird von vielen Mitmenschen weiterhin als sie oder als Ramona angesprochen (im Englischen ist diese Unbedachtheit als "Deadnaming" bekannt). Die Mitschülerin, für die Ray heimlich schwärmt, lobt nach dem gewaltsamen Überfall, dass er sich für ein Mädchen ganz schön mutig verhalten habe, und versetzt ihm damit einen Stich ins Herz. Sein Vater Craig bezweifelt gar die Notwendigkeit der geschlechtsangleichenden Maßnahmen: "Aber was, wenn es besser wird?" – als leide sein Kind an einer Krankheit. Woraufhin Rays Mutter klug antwortet, dass es nicht besser werde, weil es nichts Schlechtes sei. Und Ray selbst, der sich nichts mehr als ein "normales Leben als normaler Junge" wünscht, sagt abfällig über die anderen Leute in seiner Selbsthilfegruppe, er habe keine Lust auf diese "Freaks" – und überträgt damit seine eigene Außenseiterrolle auf andere Betroffene. "Alle Farben des Lebens" verdeutlicht trotz des Happy-Ends, dass guter Wille und Lernbereitschaft bei solch komplexen und gesellschaftlich immer noch umkämpften Fragen nur ein Anfang sind.