Rays Zerrissenheit zwischen Selbst- und Fremdbild ist im Grunde schon im urpsrünglichen englischen Originaltitel "About Ray" benannt. Denn es sind vor allem die anderen – seine Mutter Maggie, die lesbische Großmutter Dolly und ihre Lebensgefährtin Frances, später der abwesende Vater –, die über Ray sprechen. Alle glauben zu wissen, was für ihn gut und richtig ist. Ray ist in Zum Filmarchiv: "Alle Farben des Lebens" ständiger Mittelpunkt: als Akteur, aber auch als "Objekt" von Gesprächen, Verhandlungen, von persönlichen und ideologischen Konflikten. Seine eigene Stimme wird dabei wiederholt übergangen.

Auch wenn die Erzählhaltung des Films grundsätzlich objektiv ist – die Geschichte wird nicht primär aus Rays Perspektive erzählt, sondern entwickelt sich aus dem Zusammenspiel aller Figuren –, führt die Regisseurin Gaby Dellal mit Rays Video-Tagebuch eine für das Verständnis der Hauptfigur wichtige Ebene ein. Der dadurch etablierte wiederkehrende Perspektivwechsel zieht sich wie ein roter Faden durch den Film und ermöglicht einen tieferen Einblick in Rays Gefühls- und Gedankenwelt wie auch in den Prozess seiner Selbstvergewisserung als Junge.

Innerer Dialog im Video-Tagebuch

Ähnlich wie die klassische Zum Inhalt: Off-Stimme schafft Rays Tagebuch eine Verbindung zwischen Figur und Publikum. Doch trotz des privaten, intimen Charakters des Tagebuchführens in Form einer audiovisuellen Aufzeichnung wird man als Zuschauender unmittelbar angesprochen, ins Vertrauen gezogen und zur Teilnahme an der Erfahrungswelt der Figur eingeladen. Gleichzeitig übernimmt das Video-Tagebuch die Funktion eines Selbstgesprächs. Dieser innere Dialog – mal bekenntnishaft, mal nachdenklich – spielt in Rays Selbstfindung eine bedeutende Rolle und zeichnet die Entwicklung des Teenagers bis zur beginnenden Hormonbehandlung nach. Für Ray ersetzt das Tagebuch gewissermaßen die Therapie ("Ich gehe nicht zu diesen Freaks zurück", erklärt er einmal seiner Mutter). In dieser Auseinandersetzung spielen auch Kindheitserinnerungen in Zum Inhalt: Rückblenden eine wichtige Rolle.

Alle Farben des Lebens, Filmszene (© TOBIS Film)

Normal oder authentisch?

Am Anfang des Films steht Rays Entschluss, sich einer Hormonbehandlung zu unterziehen, bereits fest. Im Video-Tagebuch vergewissert er sich seiner Entscheidung immer wieder. Der erste Eintrag im Film ist eine kurze Einführung in seine Lebenssituation: das unkonventionelle Aufwachsen in einem reinen Frauenhaushalt, sein dringlicher Wunsch, ein Junge zu werden, seine Sehnsucht nach Normalität. Diese eher selbstrefenziellen Beobachtungen bilden das Gerüst der Ich-Erzählung. Zentral ist hierbei eine Szene, in der Ray sich an Bilder aus seiner Kindheit als Mädchen erinnert: Seine Mutter möchte aus ihm gerne eine Prinzessin machen, während er sich lieber als Rennfahrer, Astronaut oder Cowboy verkleiden will. Die Deklination der männlichen Pronomen – "sein, er, ihn, Ich – Junge" – beschreibt seine Selbstfindung über die Sprache, eine Art Wiedergeburt in Gestalt seiner wahren, authentischen Identität. So entgegnet Maggie einmal auf die Frage Dollys, warum Ray unbedingt "normal" sein wolle und nicht "authentisch", dass authentisch für ihn eben bedeute, als Junge zu leben. In den begleitenden Bildern präsentiert sich Ray betont jungenhaft mit Mütze und Unterhemd beim Stemmen von Gewichten: Das ist Ray, wie er sich sieht.

Als Rays Beziehung zu seiner Mutter im Verlauf der Filmhandlung komplizierter wird, weil sich Maggie u. a. ihrer Vergangenheit stellen muss, setzt er sich in seinem Video-Tagebuch stark damit und mit seinen Kinder- und Jugendjahren als Ramona auseinander. In dem mit "My Mom" betitelten Eintrag verarbeitet er auch Interviews mit Maggie. Darin erzählt diese beispielsweise, wie Ray sich als Kind weigerte, ein Kleid anzuziehen, und es in einem demonstrativen Akt zerschnitt. Durch die Aussagen der Mutter wird Ray in seiner Gewissheit nur bestärkt, nie ein Mädchen gewesen zu sein.

Funktion des "Selfies"

Neben dem Rückblick dient das Video-Tagebuch aber auch der Formulierung geheimer Wünsche sowie der Alltagsdokumentation. Mit dem Krafttraining versucht Ray, sich noch vor dem Beginn der Hormonbehandlung der normativen Vorstellung eines maskulinen Körpers anzunähern. Er dokumentiert seine physischen Veränderungen: die Gewichtszunahme und Definierung des Brustkorbs durch das Training. Sein Spiegelbild, das Ray in dieser Szene betrachtet, erfüllt die Funktion des "Selfies" für die Erforschung des Selbstbildes. Auch gesteht Ray in seinem Tagebuch seine Sehnsucht, mit einer Schulkameradin zusammen sein zu wollen, in die er sich verknallt hat. Oder er erzählt von seinem Lieblingsimbiss, den er seit Jahren besucht, weil der Besitzer zu ihm immer "Danke, kleiner Mann" sagt.

Alle Farben des Lebens, Filmszene (© TOBIS Film)

Ray findet seine Identität

Mehrfach übernimmt das Video-Tagebuch auch eine vermittelnde Funktion zwischen Sohn und Mutter: Eine Zum Inhalt: Szene zeigt, wie Maggie sich das Video-Tagebuch auf Rays Laptop anschaut. Zuvor hatte Ray den gewaltsamen, durch seine sexuell ambivalente Erscheinung provozierten Übergriff auf der Straße vor seiner Familie heruntergespielt. Erst über die Video-Aufzeichnung erfährt seine Mutter, was eigentlich vorgefallen ist.

Nachdem Rays Selbstdarstellung anfangs noch etwas Suchendes, Herantastendes hat, gewinnt er mit der Zeit an Souveränität. Während die Familie bis zuletzt verwirrt zwischen den Bezeichnungen er, sie, Ray, Ramona, Sohn und Tochter herumlaviert, stabilisiert sich seine Identität durch die Familienkrise erst recht. "Alle glauben, meine Persönlichkeit hätte etwas mit dem Bild zu tun, das sie sich bei meiner Geburt machten. Sie irren sich", erklärt Ray gleichermaßen wütend wie traurig und fragt: "Seit wann weiß ich, dass ich ein Junge bin?" Die Antwort räumt in ihrer Bestimmtheit jeden Zweifel über seine geschlechtliche Identität aus dem Weg: "Seit ich vier bin" – wobei das akustische Echo seiner Worte der Antwort noch mehr Nachdruck verleiht. Als die Hormonbehandlung rechtlich in die Wege geleitet ist, verschwindet die Instanz des Video-Tagebuchs aus dem Film. Die letzten Aufnahmen mit Rays iPhone beim Abendessen der erweiterten Großfamilie deuten auf die herbeigesehnte Annäherung von Selbst- und Fremdbild hin.

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