Kategorie: Interview
"Ray wirkt nicht übertrieben maskulin. Er ist einfach er selbst."
Regisseurin Gaby Dellal spricht über Lebens- und Familienmodelle und erklärt, dass sie mit ihrem Film das Thema Transgender einem breiten Publlkum nahebringen möchte.
Gaby Dellal, geboren 1961, ist eine englische Schauspielerin, Drehbuchautorin und Regisseurin. Ihr Regiedebüt "On a Clear Day" (2005) gewann den schottischen BAFTA Award für den besten Film und das beste Drehbuch. Ihr US-Debüt feierte sie 2011 mit der amerikanisch-kanadischen Koproduktion "Angels Crest" . Zum Filmarchiv: "Alle Farbe des Lebens" ist ihr erster abendfüllender Spielfilm, bei dem sie für Regie und Zum Inhalt: Drehbuch verantwortlich war.
Frau Dellal, können Sie etwas zur Entstehungsgeschichte von "Alle Farben des Lebens" sagen? Woher kam die Idee, die Transgender-Thematik am Beispiel eines Generationen-Porträts zu erzählen?
Die Geschichte geht zurück auf meine eigenen Erfahrungen als Mutter eines Sohnes. Die Transgender-Thematik spielte zu diesem Zeitpunkt jedoch noch keine Rolle. Ich wusste damals ehrlich gesagt auch nichts über dieses Thema. Es ging in meiner ersten Drehbuchversion vor allem darum, wie die nächste Generation der vorherigen Generation neue Sichtweisen eröffnet. Vor fünf Jahren lernte ich dann einen Vater kennen, der dieselbe Geschichte durchmachte wie Maggie im Film. Ich fand, dass das Transgender-Thema eine sehr gute Metapher für meinen Film sein könnte.
Wie haben Sie sich über das Thema informiert?
Ich habe viel recherchiert und junge Menschen getroffen, die sich auf eine geschlechtsangleichende Behandlung vorbereiteten. Mich überraschte, wie reflektiert die Jugendlichen schon in ihren jungen Jahren waren. Es ist schwierig, das zu verallgemeinern, aber die meisten von ihnen realisierten sehr früh, dass sie sich in ihrem Körper unwohl fühlten. Sie waren sich ihrer selbst erstaunlich bewusst. Mit Sexualität hatte das nichts zu tun. Ihr Unbehagen lag eher daran, dass der Körper, in dem sie lebten, sich nicht mit ihrem Kopf im Einklang befand. Die Fragen, die sich diese jungen Menschen stellten, waren durch ihr ausgeprägtes Körper- und Selbstbewusstsein viel artikulierter als bei anderen Gleichaltrigen. Mir hat das die Augen geöffnet.
Was hat Sie an diesen jungen Menschen besonders beeindruckt?
Ich habe sie dafür bewundert, wie selbstbewusst sie sich verhielten. Dass sich viele von ihnen zum Beispiel gar nicht offensiv entsprechend ihres gelebten Geschlechts kleideten. Das habe ich im Film übernommen. Ray wirkt nicht übertrieben maskulin. Er ist einfach er selbst, er muss sich selbst und niemandem etwas beweisen.
Sie zeigen in Ihrem Film unterschiedlichen Lebens- und Familienmodelle. Inwiefern ist diese Vielfalt für Ihren Film wichtig?
Das war mir sehr wichtig. Betrachten wir nur die lesbische Großmutter. Viele Menschen nehmen noch immer an, dass eine geschlechtsangleichende Maßnahme etwas mit der Sexualität eines Menschen zu tun hat. Ich wollte dagegen zeigen, dass selbst eine Frau, die sich ihr Leben lang für die Rechte anderer Frauen eingesetzt hat und in einer lesbischen Beziehung lebt, angesichts der Tatsache, dass Ray zum anderen Geschlecht "überläuft", genauso panisch reagiert wie viele heterosexuelle Menschen.
… während Rays jüngere Stiefschwester ihn ohne zu zögern als Jungen akzeptiert.
Das ist eine meiner Zum Inhalt: Lieblingsszenen im Film, wenn das kleine Mädchen zu Ray "Du bist ein Junge" sagt. Diese Szene stellt Fragen, die uns alle angehen. Ist es ausreichend, zu sagen, dass es nur zwei Geschlechter gibt? Und woher kommt eigentlich diese Fixierung auf die Frage "Junge oder Mädchen"? Gleich nach der Geburt stecken wir Kinder in Jungen- oder Mädchenkleidung und erlauben ihnen keine Individualität. Ich habe bei meinen Recherchen junge Menschen getroffen, die sich gerade in einer geschlechtsangleichenden Behandlung befanden und plötzlich zu zweifeln begannen. Vielleicht werden wir bald in einer Welt leben, in der Menschen sich keinen Operationen mehr unterziehen müssen, sondern sein können, wer sie sind.
Ihr Film stellt Rays Entscheidung an den Anfang. Es geht in "Alle Farben des Lebens" nicht mehr um den Kampf um Selbstverwirklichung, sondern darum, wie die Familie sich mit Rays Entscheidung arrangiert.
Das war mir wichtig. Ich wollte keinen Problemfilm machen, sondern einen Film über eine Familie. Ray hat seine Entscheidung bereits getroffen. Der Film sollte das Thema einem größeren Publikum auf sanfte Weise näherbringen.
Können Sie kurz etwas zu der dramatischen Funktion des Video-Tagebuchs sagen?
Das Video-Tagebuch habe ich erst spät ins Drehbuch eingebaut. Die Ironie der Geschichte besteht darin, dass mein Agent mir anfangs prophezeite, dass der Film eine sehr kleine Zielgruppe haben würde, weil nur wenige Menschen das Thema Transgender interessiere. Als der Film dann fertig war, war das Thema dank Caitlyn Jenner (Anm.: ein ehemaliger US-amerikanischer Sportler, der sich einer geschlechtsangleichenden Behandlung unterzogen hat) in allen Medien. Ich hatte also einen Familienfilm, der das Transgender-Thema herunterspielt. Darum sollte das Thema im Film mehr Gewicht bekommen. Das Video-Tagebuch gab mir die Möglichkeit, den Film stärker aus Rays Perspektive zu erzählen, ohne dass ich nachdrehen oder das erzählerische Mittel des Zum Inhalt: Voice-over einsetzen musste. Dank des Video-Tagebuchs bekommt seine Entscheidung nun ein stärkeres emotionales Gewicht.
Es gab in den letzten Jahren oft Diskussionen, wenn im Kino Transgender-Figuren von Cisgender-Darstellern, also Nicht-Trasgender-Darstellern, gespielt wurden. Dachten Sie daran, als Sie die Rolle von Ray mit Elle Fanning besetzten?
Ja, aber ich denke, Elle ist fantastisch. Ich fand damals keinen Transgender-Darsteller, dem ich die Rolle hätte anbieten können. Angesichts des gesellschaftlichen Klimas war die Besetzung mit namhaften Darsteller/-innen bei der Finanzierung eines Films über das Transgender-Thema durchaus hilfreich. Ich hoffe, dass unser Film vielen Menschen die Augen öffnet, sodass Filmemacher/-innen zukünftig Trans*-Rollen mit Trans*-Darstellern besetzen können. Mir war es aber auch wichtig, dass sich Ray zum Zeitpunkt des Films noch mitten in der Behandlung befand.
Wie haben Sie mit Elle Fanning an der Rolle gearbeitet?
Wir haben im Verlauf der Vorbereitungen mit vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen gesprochen. Ich wollte zum Beispiel nicht, dass Elle mit tieferer Stimme spricht. Wir haben vor allem an ihrer Körpersprache gearbeitet: wie sich Ray bewegt, wie er tanzt und sitzt. Die Bewegungen sollten sehr subtil wirken – nicht, als ob ein Mädchen versucht, sich wie ein Junge zu benehmen.
Und was sollen Jugendliche aus Ihrem Film mitnehmen?
Das Wichtigste ist, dass wir Menschen so akzeptieren, wie sie sind – und sie nicht nach Äußerlichkeiten bewerten.