Kategorie: Filmbesprechung
"Das weiße Band - Eine deutsche Kindergeschichte"
Mysteriöse Ereignisse, Schuld und Gewalt
Unterrichtsfächer
Thema
1913/14: Ein norddeutsches Dorf, in dem feudale Autorität und protestantische Strenge herrschen, wird von mysteriösen Ereignissen erschüttert, die immer mehr wie Bestrafungen erscheinen. Der Dorfarzt stürzt mit seinem Pferd über einen gespannten Draht und verletzt sich schwer. Eine Arbeiterin kommt im Sägewerk um, das Kohlfeld des Gutsherrn wird verwüstet, sein Sohn wird misshandelt aufgefunden und das behinderte Kind der Hebamme wird Opfer einer anonymen Gewalttat. Als der junge Dorflehrer Kinder und Jugendliche ins Visier nimmt, wird er vom Pfarrer zurückgepfiffen. Die Hebamme, die etwas zu wissen scheint, verschwindet ebenso spurlos wie der Arzt, dessen Kinder und der behinderte Junge. Ohne die Vorgänge aufklären zu können, verlässt der Lehrer mit seiner Geliebten das Dorf, als sich die Botschaft vom Beginn des Ersten Weltkriegs verbreitet.
In kontrastscharfen, brilliant nachbearbeiteten Schwarzweißbildern, die an Fotografien August Sanders erinnern, entwickelt der prominent besetzte Ensemblefilm seine Geschichte episodisch mit Hilfe der rückblickenden Erzählerstimme des Dorfschullehrers (Glossar: Zum Inhalt: Voiceover). Der Film verdichtet gewalttätige Ereignisse und schuldhafte Verstrickungen in einem dörflichen Mikrokosmos allegorisch zu einem Gesellschaftspanorama, das über das Sittengemälde hinaus auf die politischen Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts verweist. Klar arrangierte Zum Inhalt: Bildkompositionen, ruhige Einstellungen mit eingefrorenen Bildern, langsame Schnittrhythmen (Glossar: Zum Inhalt: Montage) ebenso wie die streng handlungsbezogene Realmusik (Glossar: Zum Inhalt: Filmmusik) perfektionieren die Haneke-typischen Mittel einer radikalen ästhetischen Distanz und Reduktion.
Der komplexe und voraussetzungsreiche Film verweigert vollständige (Auf-)Lösungen und eröffnet Schüler/innen der Oberstufe verschiedene Lesarten zur Auseinandersetzung mit Autorität, Disziplinierung und deren gesellschaftspolitischen Folgen. Neben einer Analyse der Filmsprache eignet er sich im Verbund mit einschlägigen literarischen Zeugnissen (beispielsweise von Heinrich und Thomas Mann) gut zum mentalitätsgeschichtlichen Verständnis der wilhelminischen Vorkriegsepoche. Auch lassen sich Erziehungsfragen und Grundlagen moralischer Entwicklung diskutieren. Ohne die Perspektive von Kindern einzunehmen, lässt sich diese "deutsche Kindergeschichte" über eine differenzierte Sicht auf junge Heranwachsende erschließen: Erneut erscheinen Kinder bei Haneke als Hoffnungsträger und als Gefährdete, in denen durch physische wie psychische Gewalt um so mehr zerstört werden kann – und die unter bestimmten Verhältnissen auch "unschuldig schuldig" werden können.