Normandie 1919: Der Kriegsheimkehrer Raphaël darf als Handwerker auf dem Hof der Bäuerin Adeline arbeiten, die schon seine kleine Tochter Juliette aufgenommen hat. Die Mutter des Mädchens ist während des Krieges gestorben. Im Dorf wird die kleine Zufallsfamilie misstrauisch beäugt, umso fester hält sie zusammen. Juliette entwickelt sich zu einem feinfühligen und musisch begabten Kind, für das der versierte Holzschnitzer Raphaël Spielzeug fertigt und sogar ein Klavier restauriert. Nebenbei entdeckt sie die Literatur. Als Teenager scheint sich für Juliette die Prophezeiung einer Wahrsagerin zu erfüllen, ein Boot mit purpurnen Segeln werde am Himmel erscheinen und sie in die Welt hinausbringen – ein junger schöner Pilot landet mit dem Flugzeug in ihrem Leben, verschwindet aber bald wieder. Nach dem Tod ihres Vaters, der mit einer – nach dem Bild seiner verstorbenen Frau geschnitzten – Galionsfigur sein letztes großes Werk vollbracht hat, ist Juliette auf sich allein gestellt. Um den engen Verhältnissen zu entkommen, muss sie ihren eigenen Weg finden.

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Alexander Grins Roman Das Purpursegel (1923), bereits 1961 in der Sowjetunion verfilmt, dient Regisseur Pietro Marcello nur als lose Vorlage (Glossar: Zum Inhalt: Adaption). Dennoch steht auch im Film die innige Vater-Tochter-Beziehung im Vordergrund. In der Liebe zu Kunst und Handwerk finden sie eine Verbindung. Wenn der sichtlich traumatisierte, nur äußerlich grob wirkende Raphaël mit seinen massigen Händen in Nahaufnahmen (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen) das Holz bearbeitet, sieht das zarte Kind fasziniert zu. Solche Kontraste bestimmen den ganzen Film, der die Brutalität der Dorfgemeinschaft und romantische Momente, die Härte des Landlebens und malerische Naturimpressionen geschickt miteinander verknüpft. Nach einem recht düsteren Beginn verleihen kleine Gesangseinlage (Glossar: Zum Inhalt: Filmmusik) in der zweiten Hälfte dem Film mitunter die Leichtigkeit eines Zum Inhalt: Musicals. Das analoge Zum Inhalt: 16mm-Material und der abgerundete Bildrahmen (Glossar: Zum Inhalt: Filmkader) lassen den Film selbst wirken wie ein Relikt der Zwischenkriegszeit – allerdings in Zum Inhalt: Farbe. Wie schon in seinem Künstlerepos Zum Filmarchiv: "Martin Eden" (IT/FR/DE 2019) integriert der Regisseur altes Zum Inhalt: Dokumentarfilmmaterial, das seine Figuren auch in einen filmhistorischen Kontext stellt. Das Ergebnis ist eine außergewöhnliche Mischung aus dokumentarischer Strenge und magischem Realismus.

Der zeitgeschichtliche Rahmen – die 1920er- und 30er-Jahre – ist nicht zufällig gewählt. Wenn Juliette mit der Eisenbahn in die große Stadt fährt, betritt sie eine neue Welt von Warenhäusern, Industrialisierung und Massenproduktion. In Geschichte und Politik können die Schüler/-innen nachvollziehen, wie "Die Purpursegel" diesen Einbruch der Moderne in die Handlung integriert. Raphaëls "altmodisches" Holzspielzeug gilt bald als unverkäuflich, das Flugzeug des jungen Piloten ist ein Vorbote des Kommenden. In den künstlerischen Fächern lässt sich darüber hinaus erörtern, wie der Film diese Modernisierung mit einer Reflexion des eigenen Mediums verknüpft. Wie wirkt das analoge Material in heutigen, digitalen Zeiten? Unter welchen Bedingungen entstehen heute historische Filme? In der inhaltlichen Auseinandersetzung kann Juliettes Emanzipationsprozess diskutiert werden, aber auch die aus der Not des Krieges geborene Patchwork-Familie am sogenannten "Hof der Wunder" – hier ein matriarchales Modell, das in der patriarchalen Dorfgemeinschaft auf Widerstand stößt. Zur weiteren Interpretation in Deutsch oder Französisch eignen sich die zahlreichen Verweise auf Märchen und Literatur, zum Beispiel das Gedicht La hirondelle (Die Schwalbe) der Anarchistin Louise Michel (1830-1905), das Juliettes Freiheitsverlangen inspiriert.

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