Kategorie: Hintergrund
Inklusion auf der Leinwand
Menschen mit Behinderung in neueren deutschen Spiel- und Dokumentarfilmen
Neuere deutsche Kinofilme greifen den persönlichen und gesellschaftlichen Umgang mit behinderten Menschen vermehrt auf - sowohl in fiktionaler als auch in dokumentarischer Form. Sie bieten damit einen guten Einstieg in die Auseinandersetzung mit der Thematik.
Menschen mit Behinderung sind selten an der Herstellung und Gestaltung von Filmen beteiligt. In Deutschland ist Niko von Glasow, Regisseur von (Deutschland 2013), wohl in dieser Hinsicht der einzige Filmschaffende und auch Filmproduzent Andreas F. Schneider, der (Michael Hammon, Deutschland 2013) maßgeblich initiierte, gehört zu den wenigen, die selbst mit einer Behinderung leben. Jetzt, Anfang 2013, starten ihre Filme mit wenigen Wochen Abstand im Kino.
Spitzensportler/innen als Vorbilder
Die beiden Zum Inhalt: Dokumentarfilme über Leistungssportler/innen entstanden im Fahrwasser der Paralympischen Spiele in London 2012. In erlauben Kirsten Bruhn, querschnittgelähmte deutsche Schwimmerin, Henry Wanyoike, blinder Marathon- und 5.000-Meter-Läufer aus Kenia, und Kurt Fearnley, australischer Rennrollstuhlfahrer, einen sehr persönlichen Einblick in ihr Leben: Während Fearnley seit Geburt behindert ist, werden Bruhn und Wanyoike erst als Erwachsene mit einer Behinderung konfrontiert. Ganz unterschiedlich gehen sie damit um. Gemein ist ihnen ihre sportliche Leidenschaft und ihr intensives Vorbereitungstraining, das bis hin zu dem Ereignis selbst Protagonisten/innen und Zuschauende gleichermaßen in Spannung versetzt.
Michael Hammon nähert sich den Spitzensportlern/innen, ihren Angehörigen und Freunden/innen eher unbemerkt, er bleibt selbst außerhalb des Bildes. Gleichzeitig nimmt er sein Publikum mit der Kamera ins Geschehen mit hinein und kommt dadurch seinen Protagonisten/innen sehr nahe. Vor allem aber überträgt sich ihr sportlicher Ehrgeiz durch geschickte Dramaturgie und Zum Inhalt: Montage auf die Zuschauenden, bis sie schließlich bei den Wettkämpfen in London mitfiebern. Niko von Glasow wählt in einen anderen Ansatz: Er bestimmt das Geschehen durch seine aktive Beteiligung vor der Kamera und stellt konfrontativ den Ambitionen der Protagonisten/innen seine eigene Unsportlichkeit gegenüber. Als Mensch, der selbst mit einer körperlichen Behinderung lebt, erlaubt er sich sehr direkte Fragen mit oft humorvollem Ansatz, bleibt dabei jedoch stets emotional in respektvoller Distanz. Für die Filmbildung ist ein Vergleich der beiden Dokumentarfilme in zweierlei Hinsicht empfehlenswert: Zum einen eignen sie sich hervorragend für einen Stilvergleich der Regisseure, zum anderen kann man hier beispielhaft die Bildsprache von Sportreportagen und Personenporträts erarbeiten.
Ambivalenzen und Widersprüche – Humorvolle Skepsis und persönlicher Einsatz
Von Glasow lenkt auch in seinem Dokumentarfilm über die Entstehung des Theaterstücks Alles wird gut! (, Deutschland 2012) als beteiligter Regisseur von Stück und Film die Geschehnisse vor der Kamera. Das im Film inszenierte Theaterstück erzählt die fiktive Geschichte einer Gruppe von Menschen mit Behinderung, die an einer Casting-Show teilnehmen wollen und dabei auf perfide Weise ausgegrenzt werden. Abgeschoben in einen Abstellraum, setzen sich die unterschiedlichen Persönlichkeiten mit ihren Träumen, Talenten und Befürchtungen, mit Ehrgeiz und Konkurrenzdenken auseinander. Der gesamte Film stellt – quasi als Diskussionsanreiz – die verschiedenartigen Temperamente und Charaktere von Regisseur und Darstellern/innen (mit und ohne Behinderung) sowie ihre Konflikte mit dem Stoff und ihren Rollen in den Mittelpunkt. Die authentischen inneren Widersprüche bilden den spannenden Rahmen der Dokumentation, die vor allem zeigt, wie die gemeinsame Arbeit in der Gruppe persönliche Empfindungen, Fremd- und Eigenwahrnehmung verändern kann. Die beobachteten Ängste, Vorurteile und Sehnsüchte der Protagonisten/innen fördern dabei auf humorvolle Weise eigene emotionale Widersprüche der Zuschauenden zutage.
Inklusion in der Schule als Filmthema
Der inklusive Unterricht ist ein besonderes Thema in der Auseinandersetzung um Teilhabe oder Ausgrenzung in unserer Gesellschaft. Der Streit um Förderschulen und Integrationsklassen beschäftigt die Pädagogik bereits seit vielen Jahren. Wie Inklusion in der Schule gelingen kann, zeigen die Dokumentarfilme (Hubertus Siegert, Deutschland 2005) und (Hella Wenders, Deutschland 2011) an konkreten Beispielen. Schulische Integration ist aber auch für die Fiktion ein Thema, beispielsweise in dem Spielfilm "Rückwärtslaufen kann ich auch" (DDR 1990). Mit seiner Geschichte von der siebenjährigen Kati, die aufgrund körperlicher und leichter kognitiver Behinderungen größere Lernschwierigkeiten hat als andere Kinder, wirft Regisseur Karl Heinz Lotz einen kritischen Blick auf jene Institutionen, die Kinder in unserer Gesellschaft eigentlich fördern sollten.
Mit der Behinderung spielen
Auch der Spielfilm (Bernd Sahling, Deutschland 2004) greift das Thema "Schule" auf, allerdings unter dem Aspekt zielgerichteter Förderung. Die 13-jährigen sehbehinderten Hauptfiguren Marie und Inga sind musikalisch begabt und möchten gerne in einer Band spielen. Doch die Musiker, bei denen sie sich um Aufnahme bewerben, lehnen sie unter fadenscheinigen Gründen ab. Deshalb gründen Marie und Inga schließlich eine eigene Band, mit der sie am Schülerbandwettbewerb teilnehmen. Parallel erzählt der Film von Maries Begegnung mit einem kasachischen Ausreißer, erster Verliebtheit, echter Freundschaft und der Entwicklung von Selbstbewusstsein. Marie und Inga wachsen dem Publikum sofort ans Herz. Die beiden Mädchen, die ihre Sehbehinderung gelegentlich geschickt einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen, lassen in jedem Moment deutlich werden, dass sie nichts von anderen Mädchen ihres Alters unterscheidet. Der Film geht nur beiläufig auf gesellschaftliche Vorurteile ein, im Zentrum der Handlung stehen stattdessen Energie und Stärke der Hauptfiguren, die humorvoll und spannend in Szene gesetzt werden.
Authentisch oder dargestellt – Rollenverteilung vor der Kamera
In werden Inga und Marie von tatsächlich sehbehinderten Jugendlichen dargestellt. Vor der Kamera sind Menschen mit Handicaps jedoch immer noch eher die Ausnahme – selbst in der Rolle von Behinderten. International war einer der ersten körperbehinderten Hauptdarsteller/innen der 13-jährige contergan-geschädigte Kenny Easterday, der sich in der fiktiven Familiengeschichte "Kenny"
(Claude Gagnon, Japan, USA, Kanada 1988) mehr oder weniger selbst spielte. Behinderte Darsteller/innen des Theaters Thikwa spielten in (Silke Enders, Deutschland 2003) eine Behindertengruppe, bei der die Titelfigur einen Sozialdienst ableisten muss. Beide Filme bestechen durch die Authentizität der Rollen und die große Tiefe der Figurenzeichnung.
Meistens jedoch werden Menschen mit Handicaps von Nicht-Behinderten dargestellt. Renommierte Schauspieler wie Leonardo di Caprio (als geistig behinderter Jugendlicher in "Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa"
, Lasse Hallström, USA 1993) und Dustin Hoffmann (als Autist in , Barry Levinson, USA 1988) sowie die Sängerin Björk (als erblindende Arbeiterin in , Lars von Trier, Frankreich, Dänemark, Schweden, Deutschland, Norwegen, Niederlande, Island 1999) spielten berühmt gewordene Figuren mit Behinderung.
Beziehungsgeflechte
Die Rolle des querschnittgelähmten Benjamin, der in (Dietrich Brüggemann, Deutschland 2009) mit seinem Schicksal hadert, und durch die Annäherung an seinen Zivildienstleistenden und eine von beiden begehrte Musikstudentin an die Grenzen seines Zynismus gebracht wird, ist ebenfalls mit einem nicht-behinderten Schauspieler besetzt. Robert Gwisdek spielt den jungen Mann, der seine Querschnittslähmung gelegentlich als Aggressionsventil oder Mittel zum Zweck einsetzt. Die Tragikomödie bleibt dicht an ihren Hauptfiguren und ihren inneren Konflikten und Blockaden, das Ziel ist für alle drei Protagonisten/innen die innere Klärung von Beweggründen und Perspektiven. In diesem Sinn versucht der Film, eine Vergleichbarkeit auf der emotionalen Ebene herzustellen, die unabhängig von der körperlichen Ungleichheit funktioniert.
Auch Zum Filmarchiv: "Jenseits der Stille" (Caroline Link, Deutschland 1996) befasst sich mit den Verständnisproblemen zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten. Die Tochter gehörloser Eltern entdeckt in der sensibel erzählten Geschichte ihr musikalisches Talent und die Liebe zur Klarinette und muss ihren inneren Widerspruch zwischen eigenen Wünschen und Pflichtgefühl überwinden.