Denny Wehrhold ist Sonderpädagoge und unterrichtet Chemie, Physik und Mathematik an einer Berliner Schule mit dem Förderschwerpunkt "Körperliche und motorische Entwicklung". Als Dozent an der Humboldt-Universität zu Berlin leitet er seit 2014 die Vor- und Nachbereitungsseminare zum "Berufsfelderschließenden Praktikum" und betreut die Studierenden der Abteilung "Pädagogik bei Beeinträchtigungen der körperlich-motorischen Entwicklung" in ihren Praktika. Seit 2018 promoviert er im Themenfeld "Leistungsnormierung in heterogenen Lerngruppen" an der gleichen Universität.

kinofenster.de: Herr Wehrhold, Inklusion ist ein häufig verwendetes Schlagwort. Was verbirgt sich hinter dem Begriff?

Denny Wehrhold: Aus meiner Sicht ist das grundsätzliche Ziel die Chancengleichheit. Inklusion bedeutet für mich, dass Menschen – etwa mit Förderbedarf – die Teilhabe an Bildung und ebenso an gesellschaftlichen Angeboten ermöglicht wird und im Bestfall eine Normalität im Umgang mit ihnen erreicht werden kann. Damit geht allen voran der Abbau von Barrieren einher, welche dieses Ziel verhindern. Schulisch gesehen, beginnt dies bereits mit der Architektur. Die meisten - vor allem alten - Gebäude benötigen einen Umbau, um barrierefrei zu werden. Wenn diese Rahmenbedingungen nicht vorliegen, ist der Zugang zum Lernen und Teilhaben nicht möglich oder erheblich erschwert.

kinofenster.de: Wann hat sich das gesellschaftliche Bewusstsein für Inklusion gewandelt?

Denny Wehrhold: Durch die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, die im Februar 2009 in Deutschland in Kraft getreten ist, findet hierzulande endlich der Beginn eines größeren Umdenkens statt. In den USA beispielsweise, sind Vorläufer der Inklusion schon länger Praxis. Der "Individuals with Disabilities Education Act" (IDEA), das "Bildungsgesetz für Menschen mit Behinderungen", regelt seit den 1970er-Jahren dort, dass Kinder in einer "am wenigsten einschränkenden Umgebung" unterrichtet werden. Seit 1990 existiert darüber hinaus das Gleichstellungsgesetz ("Americans with Disabilities Act (ADA)"), welches jegliche Diskriminierung von Menschen mit Behinderung im öffentlichen Raum verbietet.

kinofenster.de: Was bedeutet Inklusion hierzulande in der Unterrichtspraxis?

Denny Wehrhold: Moderner Unterricht umfasst im Idealfall unterschiedliche Niveaustufen. Dabei sollte optimalerweise eine Orientierung am stärkeren Level stattfinden können. Um das zu ermöglichen, ist eine Lernatmosphäre nötig, in welcher sich die Schüler/-innen zum Beispiel gegenseitig Fragen stellen und einander helfen können. Das Lernen durch Lehren spielt hierbei eine zentrale Rolle. Über spielerische Zugänge kommen Schüler/-innen fachinhaltlich sowie sozial oftmals weiter, als das im Vorfeld von Lehrer/-innen vermutet und vorgruppiert wird. Den Lernenden Lehrinhalte bereits im Vorhinein abzusprechen und sie damit eng in "Schubladen" zu packen, halte ich für die denkbar ungünstigste Form der Beschulung.

kinofenster.de: Inwiefern hat sich die Rolle der Lehrer/-innen hierbei verändert?

Denny Wehrhold: Als Lehrkraft sehe ich mich mittlerweile eher als "Lernwegsbegleiter", welcher den Schüler/-innen vielfältige Lernangebote unterbreitet und welche Lernende maximal fördern sollen. Erst wenn ein/-e Schüler/-in leistungsmäßig am individuellen Maximum angekommen ist, gebe ich mich als Lehrer zufrieden. Vor kurzem schnitt ein Schüler mit dem Förderschwerpunkt "Lernen" wesentlich besser (Note 1) in einer großen Matheklassenarbeit ab, als sein Mitschüler, welcher gewöhnlich immer die besten Leistungen der gesamten Klasse erreicht (dieses Mal Note 4) und welcher den MSA voraussichtlich gut erreichen wird. Beide Lerner wurden bei diesem Thema annähernd zielgleich unterrichtet und erreichten – im Vergleich zu ihren gewöhnlichen Leistungen – konträre Ergebnisse mit ein und derselben Klassenarbeit. Wir können daher nicht immer von gleichbleibenden Leistungserwartungen ausgehen. Auf das Leistungsvermögen nehmen täglich einfach zu viele Faktoren Einfluss, welche den einzelnen Menschen zu mehr oder weniger viel Erfolg verhelfen oder aber Misserfolge bescheren.

kinofenster.de: Die Differenzierung mit unterschiedlichen Niveaustufen bedeutet, dass in einer Unterrichtsstunde individuell Kompetenzen gefördert werden?

Denny Wehrhold: Ja, denn von der Bedeutung der kompletten Zielgleichheit muss sich inklusiver Unterricht verabschieden. Stattdessen erfolgt der Unterricht nach individueller Kompetenz- und Kognitionsstufe. Diese können übrigens von Fach zu Fach sehr verschieden sein. In jedem Fach sollten die Schüler/-innen aber zumindest am gleichen Thema arbeiten können. Es ist dabei wichtig, Material anzubieten, das verschiedene Verästelungen beinhaltet. Im besten Fall können Lernende – wie angesprochen – dann Aufgaben lösen, die über ihren antizipierten Niveaustufen liegen.

kinofenster.de: Was bedeutet Inklusion in der Arbeitswelt?

Denny Wehrhold: Auch hier sollte das Prinzip der "am wenigsten einschränkenden Umgebung" gelten, was aber zu selten der Fall ist. Leider ist es noch zu häufig so, dass sich Menschen mit Behinderungen an die gesellschaftlichen Normen und Gegebenheiten anpassen müssen und sich das gesellschaftliche System im Verhältnis dazu nur wenig an den eingeschränkten Menschen anpasst. Die Vielfalt menschlichen Daseins erfordert eine gesamtgesellschaftliche Offenheit. Allerdings scheint es mir aber auch ein Irrglaube zu sein, dass man Einschränkungen vollkommen ignorieren kann. Beispielsweise kann/sollte ein Mensch mit der Diagnose Epilepsie – aus meiner Sicht – keine Flugzeuge führen. Die Gefahr eines Anfalls während eines Fluges könnte viele Menschen unnötig in Gefahr bringen. Bedenkt man aber, dass derartige Anfälle auch spontan bei jedem bis dato gesunden Menschen auftreten können, so relativiert sich der vorangegangene Aspekt.

kinofenster.de: Zak, der Protagonist in "The Peanut Butter Falcon" , hat keinen Beruf und viel zu wenig Beschäftigung. Er lebt zu Anfang des Filmes in einem Altersheim und erlebt keine Förderung. Ist dieses Setting eine dramaturgische Zuspitzung?

Es ist leider kein unrealistisches Szenario. Während meines Studiums habe ich in einem Pflegeheim gearbeitet, in dem auch Menschen mit Down-Syndrom lebten, welche in ihren Familien nicht untergekommen sind bzw. willkommen waren. Dieses für ihr Alter untypische soziale Setting ist der individuellen Förderung keinesfalls zuträglich. Die Autorin Patricia Logan Oelwein hat bereits Mitte der 90er-Jahre mit Kinder mit Downsyndrom lernen lesen anschaulich vermittelt, wie eine frühkindliche Lesesozialisation funktioniert. Lesen und Rechnen stellen in der Regel keine grundsätzlichen Hürden für Menschen mit Down-Syndrom dar. Oelweins Buch hält tolle Ratschläge zum Erwerb der Lesekompetenz für Menschen mit und ohne Down-Syndrom bereit.

kinofenster.de: Tyler akzeptiert Zak schnell als Freund. Hat "The Peanut Butter Falcon" für Sie eine ermutigende Botschaft?

Denny Wehrhold: In der Regel bin ich bei Zum Inhalt: Spielfilmen mit Protagonisten, die eine Behinderung oder Förderbedarf haben, eher skeptisch. Selbst wenn es gut gemeint ist, besteht die Gefahr, dass die Menschen in irgendeiner Form vorgeführt werden. Ein weiteres Problem ist die klischeebehaftete Darstellung beispielsweise von Autismus, man denke an Zum Filmarchiv: "Rain Man" (Barry Levinson, USA 1988) oder "Ben X" (Nic Balthazar; NL/BE 2009). Darin werden Aspekte der Autismus-Spektrumsstörung, die von der geistigen Beeinträchtigung bis hin zum High-Functioning-Autismus reichen – aus meiner Sicht – nur unzureichend widergespiegelt.

"The Peanut Butter Falcon" hingegen verdeutlicht, wie wichtig es ist, eigene Stärken kennenzulernen. Aber es erscheint mir nicht realistisch, dass Zak wirklich Wrestler werden kann. In der sonderpädagogischen Praxis ist es wichtig, dass mit Schüler/-innen auch ihre individuellen Möglichkeiten und Grenzen besprochen werden. Ich hatte einmal eine Schülerin mit der Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Sie wollte Tänzerin werden, was rein muskulär beziehungsweise neuronal betrachtet aber nicht im Ansatz möglich war. Diese degenerative Erkrankung führt in der Regel rasch zu einem Muskelschwund und nicht selten auch zu zusätzlichen Spastiken. Die Aufarbeitung dieses Schicksals der Schülerin stellte uns als Lehrkräfte immer wieder vor Herausforderungen und zeigte deutliche Grenzen auf. Es gibt aber in "The Peanut Butter Falcon" sehr berührende Szenen, beispielsweise wenn Tyler Zak das Schwimmen beibringt. Das hat Vorbildcharakter: Hier wird das Gemeinsame betont. So wünscht man sich die Gesellschaft.

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