Stella ist zwölf Jahre alt, etwas pummelig und entdeckt gerade neue Interessen. Im Unterricht bekritzeln sie und ihre Schulfreundin Spiralblöcke mit Herzen und Penissen, zu Hause üben die Mädchen kichernd Zungenküsse mit ausgehölten Fleischtomaten. In ihr Tagebuch schreibt Stella schwärmerische Gedichte an den über 20 Jahre älteren Jacob, den Eiskunsttrainer ihrer großen Schwester Katja. Sie ist verliebt in Jacob und bewundert Katja. Ihre 16-jährige Schwester ist grazil, ehrgeizig und eine talentierte Eiskunstläuferin. Auch Stella übt sich im Eiskunstlaufen – nicht nur, um Katja nachzueifern, sondern auch, um ihrem heimlichen Schwarm nahe zu sein. Vor allem aber sucht sie die Anerkennung der Eltern.

Nächtliche Heißhungerattacken

Doch Stellas Versuche auf dem Eis sind vergeblich. Obwohl sie sich bemüht, sind ihre Bewegungen ungeschickt. Katja bekommt aufgrund ihrer sportlichen Leistungen mehr Aufmerksamkeit von den liebevollen, aber auch viel zu beschäftigten Eltern. Sie sind stolz auf ihre große Tochter und belohnen ihren Ehrgeiz mit einem maßgeschneiderten Eiskunstlaufkleid mit glitzernden Pailletten, auf das Stella sofort ein Auge wirft. Ihre Schlittschuhe und ihre türkis-pinke Jacke haben ebenfalls Strassapplikationen und als sie Jacob zu einem Gespräch unter vier Augen aufsucht, trägt sie Glitzer-Make-up. Stellas aufmerksame Blicke strukturieren den gesamten Film: Sie sieht, wie hart Katja trainiert und wie sehr sie dabei auf ihr Gewicht achtet. Eines Nachts ertappt Stella die ältere Schwester bei einer Heißhungerattacke. Auch Katjas heimliche Toilettenbesuche und ihre prüfenden Blicke auf den abgemagerten Körper im Spiegel entgehen ihr nicht. So bemerkt Stella als erste, dass ihre große Schwester unter einer Essstörung leidet. Als sie es den Eltern sagen will, setzt Katja Stella aus Scham, aber auch aus Angst um ihre Eislaufkarriere unter Druck. Sie droht, den Eltern von Stellas Liebesgedichten zu erzählen.

Stella, Szene (© Camino)

Katjas Stimmungsschwankungen

Anhand einer vielschichtigen Geschwisterbeziehung beschreibt Regisseurin Sanna Lenken in ihrem Langfilmdebüt die Erkrankung Katjas sowie das Zum Inhalt: Coming-of-Age von Stella. Ihr Verhältnis zur älteren Schwester schwankt zwischen Loyalität, Abhängigkeit und Abgrenzung. In Zum Inhalt: Close-ups inszeniert die schwedische Regisseurin die schwesterliche Intimität, ganz nah heftet sich die Kamera an die ausgelassenen Mädchen. Doch allmählich weicht ihr spielerischer Umgang einer Ernsthaftigkeit. Katja ist gestresst und launenhaft, reagiert auf Kritik empfindlich und distanziert sich zunehmend von ihrer kleinen Schwester. Während einer gemeinsamen Joggingrunde lässt Katja die erschöpfte Stella alleine zurück, um weiter zu trainieren. In einer Zum Inhalt: Totalen bleibt Stella verlassen in der Abenddämmerung auf dem Sportplatz zurück. Die Eltern verkennen die wahren Ursachen für Katjas labile Gemütsverfassung. Sie führen die Stimmungsschwankungen auf die Pubertät ihrer Tochter zurück.

Auch Stella spürt erste pubertäre Unsicherheiten. Sie geniert sich für einen Damenbart, einen Makel, den Katja ihr im Scherz einredet. Das Gefühl der Entfremdung und die Veränderungen in der Wahrnehmung des eigenen Körpers setzt Sanna Lenken auch visuell um. Scharf umrissen sind die Figuren im Bildvordergrund, während im Hintergrund oft nicht mehr als verschwommene Schemen zu erkennen sind. In traumhaften Unschärfen und extremen Zum Inhalt: Großaufnahmen verlieren die Dinge und Figuren ihre Selbstverständlichkeit und wirken entrückt. Diese Suche der Kamera ist nicht nur eine äußerliche Bewegung, sie steht auch in enger Beziehung zur wachsenden Unsicherheit der Mädchen.

Emanzipation vom Vorbild

In der ersten Hälfte von "Stella" dominieren noch helle, leuchtende Farben. Mit gleißendem Gegenlicht, Türkis- und Rosatönen erzeugt Lenken warme, stimmungsvolle Bilder. Die erzählerische Leichtigkeit in der Beziehung der Schwestern (die nicht zuletzt dem ungezwungenem Spiel der jungen Laiendarstellerinnen zu verdanken ist), kippt jedoch zunehmend in eine beklemmende Atmosphäre, je größer Stellas Sorgen um ihre kranke Schwester werden. In der zweiten Hälfte des Films fällt die Zum Inhalt: Farbdramaturgie deutlich dunkler aus, die Aufnahmen scheinen immer lichtundurchlässiger. Hier deutet sich bereits eine Verschiebung der Rollenmuster an. Stella beginnt sich vom schwesterlichen Vorbild zu emanzipieren, um Katja zu helfen.

Stella, Szene (© Camino)

Ein anderer Blick auf die Krankheit

Als Katja trotz Ermüdung und Schwäche noch unerbittlicher weitertrainiert und auf dem Eis schließlich ohnmächtig wird, setzt sich Stella über Katjas manipulativen Erpressungsversuch hinweg. Sie sucht zunächst unter einem Vorwand Rat bei einer Schulpsychologin und informiert schließlich die Eltern, die mit der Situation jedoch überfordert sind. Aus der Perspektive der kleinen Schwester sensibilisiert Stella gerade ein junges Publikum für die Gefährlichkeit der Magersucht. Die Regisseurin zeigt deutlich, dass die physische und psychologische Selbstzerstörung durch das Hungern ohne professionelle Hilfe von Ärzten kaum zu bewältigen ist. Stellas Blick vermittelt dabei eine neue Perspektive auf die Krankheit. Dass die Regisseurin nicht die Ursachen für Katjas Essstörung in den Mittelpunkt stellt, macht eine Stärke des Films aus. Diese Offenheit in den Beschreibungen von Katjas Verhalten entspricht den komplexen psychischen und sozialen Umständen, die der Krankheit zugrunde liegen.

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