Martin Koerber ist Leiter des Filmarchivs der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen und Professor für Restaurierung von audiovisuellem und fotografischem Kulturgut an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Neben Zum Filmarchiv: "Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?" hat er bereits zahlreiche Restaurierungen deutscher Filmklassiker wie Zum Filmarchiv: "Metropolis" (Fritz Lang. DE 1926), Zum Filmarchiv: "Menschen am Sonntag" (Robert Siodmak, DE 1929/30) und Zum Filmarchiv: "M" (Fritz Lang. DE 1931) initiiert, selbst durchgeführt oder begleitet.

kinofenster.de: Wenn wir heute "Kuhle Wampe" anschauen, sehen wir nicht die ursprüngliche, sondern die zensierte Fassung. Die Filmprüfstelle der Weimarer Republik hat den Film 1932 mit der Begründung verboten, er erschüttere "die Grundlagen des Staates, der sich auf einer republikanisch-demokratischen Verfassung aufbaut". Was wurde damals als so staatsgefährdend empfunden?

Martin Koerber: Das Wort "staatsgefährdend" klingt aus heutiger Sicht ein bisschen übertrieben. Aber natürlich stand der Film in einer linken Tradition, die massive Veränderungen in dieser Republik hervorrufen wollte. Zunächst wurde der Film wegen Beleidigung des Reichspräsidenten und dem Aufruf zur Untergrabung der Republik abgelehnt. Im Laufe der weiteren Zensurverhandlungen gab es immer mehr Anmerkungen, welche Teile in dem Film nicht gezeigt werden durften, so unter anderem Nacktaufnahmen vom FKK-Baden. Schließlich hat sich die Produktionsfirma entschlossen, durch einige beherzte Schnitte (Glossar: Zum Inhalt: Montage) genau diese Stücke zu entfernen. Die Kürzungen sind sehr geschickt gemacht, sie entfernen den Stein des Anstoßes, aber verändern an der Tendenz des Films eigentlich gar nichts.

kinofenster.de: Können Sie eine weitere Zum Inhalt: Szene nennen, die der Schere zum Opfer fiel?

Martin Koerber: Im Film, so wie er jetzt vorliegt, wird beispielsweise die Abtreibung des Kindes, das Anni erwartet, nur angedeutet. Das Gespräch zwischen Anni und ihrem Freund darüber, ob es jetzt passieren soll und wer das bezahlt, war in Original etwas expliziter.

kinofenster.de: Wie waren die Reaktionen auf die Zensur des Filmes und wie wurde die gekürzte Fassung vom Publikum aufgenommen?

Martin Koerber: Aufgrund der bekannten Beteiligten – wie Bertolt Brecht, Ernst Ottwalt und Hanns Eisler – war die Fachwelt schon vor Erscheinen des Films sehr interessiert, was bei diesem gemeinsamen Filmprojekt entsteht. Im Laufe des Zensurverfahrens hat sich dann eine große öffentliche Kampagne gegen das Verbot des Films gebildet, der ja absurderweise auch gerade deshalb verboten wurde, weil er künstlerisch gelungen war und dadurch als ein gefährlicher Film eingeschätzt wurde. Beim Publikum war der Film, in Berlin jedenfalls, ein großer Erfolg. Er war eine ganze Weile, auch durch diesen Skandal, sehr gefragt.

kinofenster.de: 1933 wurde der Film in Deutschland ganz verboten. Wie und wo war er seitdem überhaupt noch zu sehen?

Martin Koerber: Das Verbot erfolgte bereits neun Monate nach der Uraufführung. Der Regisseur Slatan Dudow war damals bereits im Pariser Exil. Der Film war dort und in den 1930er-Jahren auch in anderen Ländern zu sehen, mit Verweis auf die Tatsache, dass er in Deutschland verboten war. Es wurde sozusagen ein antifaschistischer Akt, den Film zu sehen, und so wurde er auch beworben. Da konnte man einen letzten Blick auf die deutsche Arbeiterbewegung quasi im Naturzustand werfen. Der Film erlaubt tatsächlich einen unmittelbaren Einblick in das, was kurz danach überhaupt nicht mehr denkbar war.

kinofenster.de: Welche Bedeutung hatte "Kuhle Wampe" in der späteren DDR?

Martin Koerber: Der Film kam dort ab 1958 wieder zur Aufführung. Für die DDR-Kulturpolitik war das proletarische Kino vor 1933 eine relevante Bezugsgröße. Man versuchte eine Linie in der Produktion von Filmen zu schaffen, die sich in der Tradition des linken Weimarer Films sahen.

kinofenster.de: Das Originalnegativ ist bis heute verschollen. Was war bei der Restauration des Films die größte Herausforderung?

Martin Koerber: Das war vor allem die historische Recherche nach Materialien. Egal wo auf der Welt man den Film findet, nahezu jede Kopie stammt aus der DDR. Nur die Vorlage, die Nitro-Kopie von vermutlich 1932/33, die Dudow nach Paris mitnahm, ist verschwunden. Wir hatten aber das Glück, dass im British Film Institute eine Kopie der Fassung lagerte, die ursprünglich in Deutschland mit den Zensureingriffen erschienen ist. Die Restaurierung und Retusche waren dann sehr aufwändig, weil der Film voller kleiner Beschädigungen war: Schrammen, Kratzer, Ölflecken. Hin und wieder fehlten auch mal kleine Stückchen. Wir haben versucht, diese mit möglichst früh datierten DDR-Kopien zu ersetzen. In der Cinémathèque Suisse gab es auch noch die erste Rolle einer französischen Fassung des Films. Das Bild ist ziemlich gut, das konnten wir für die Stellen verwenden, wo nicht französisch gesprochen wird.

kinofenster.de: Warum ist es Ihrer Meinung nach wichtig, Filmklassiker wie "Kuhle Wampe" zu erhalten und weiterhin zu zeigen?

Martin Koerber: Ich halte es für sehr wichtig, dass ältere Filme einem Publikum immer wieder vor die Nase gehalten werden. Wir lesen ja auch ältere Texte, hören ältere Musik und gehen ins Museum. Man kann daraus immer irgendetwas mitnehmen, wenn man die Werkzeuge hat, um es zu aktualisieren und in einen Kontext zu bringen, der auch jetzt noch funktioniert. Aber auch aus dokumentarischen Gründen, als Eintauchen in die Weimarer Republik, finde ich den Film sehr wertvoll.

kinofenster.de: Welche Aspekte des Films sind auch heute für junge Menschen interessant?

Martin Koerber: In der Beziehung zwischen Anni und ihrem Freund zum Beispiel ist Vieles zu sehen, was jungen Leuten auch heute noch begegnet. Was ich sehr schön finde – und das ist ungewöhnlich für einen Film der Weimarer Republik – ist, dass die Frauen so eine tragende Rolle haben. Gerda sagt am Ende auf die Frage wer die Welt ändern solle: "Die, denen sie nicht gefällt." Sie sagt damit: Das ist meine Meinung, die müsst ihr mit nach Hause nehmen. Das ist doch toll!

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