Erzählen als kulturelle Tradition

Ein alter Mann sitzt unter einem mächtigen Affenbrotbaum und erzählt eine Geschichte. Fünf Kinder hocken ihm gegenüber im Sand und hören zu. Die Rahmenhandlung im Film Zum Filmarchiv: "Die Abenteuer der kleinen Giraffe Zarafa" (Zarafa, Rémi Bezançon, Jean-Christophe Lie, Frankreich, Belgien 2011) zeigt eine Situation, die charakteristisch ist für eine kulturelle Tradition des gesamten Kontinents Afrika.
Natürlich war und ist das Erzählen von Geschichten auch in Europa oder Asien ein Teil der kulturellen Praxis: Seit jeher haben Großeltern ihren Enkelkindern Geschichten erzählt, und zu Zeiten, als gedruckte (oder digitalisierte) Texte noch nicht so verbreitet waren wie heute, hatten Moritaten- und Bänkelsänger eine wichtige Funktion für die Verbreitung von Wissen und Nachrichten. Sie verloren diese mit der wachsenden Dominanz der Schriftkultur – und heute fällt es uns schwer, Erzählungen, die ausschließlich mündlich weitergegeben werden, als vollgültige Literatur ernst zu nehmen.
In vielen Teilen Afrikas ist das anders: Hier hat die mündliche Erzählkultur bis heute einen hohen Stellenwert. Die arabische beziehungsweise europäische Schriftkultur setzte sich erst relativ spät durch und nach wie vor gibt es in vielen Regionen Afrikas im Alltag der Landbevölkerung ritualisierte Erzählsituationen: Familienfeste, Palmweinrunden, Abendgesellschaften.

Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit

Der mündlichen Erzähltradition kommt in einer Gesellschaft, in der Schriftlichkeit keine Rolle spielt, eine elementare Funktion zu: Mit den immer wieder erzählten Geschichten werden Wissen und gemeinsame Wertvorstellungen ins Bewusstsein gerufen und weitergegeben. Die Geschichten bilden eine Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Auf einem Kontinent, auf dem der Ahnenkult eine wichtige Rolle spielt, treten die Menschen über Geschichten mit ihren verstorbenen Vorfahren in Verbindung. Durch Fabeln, Märchen und andere Erzählungen erklären die älteren Dorfbewohner und -bewohnerinnen den jüngeren, woher sie kommen, was ihr Zusammenleben und ihre Identität als Gemeinschaft prägt.
Erst sehr spät hat sich die Ethnologie mit der afrikanischen Erzählkultur beschäftigt und bis heute tut sie sich schwer, das, was dort passiert, mit den Kategorien der westlichen Kulturwissenschaft zu erfassen: Die Grenzen zwischen den uns bekannten Textsorten gelten nicht, mythisches und historisches Wissen sind nicht eindeutig voneinander zu trennen. Und es wird nicht nur erzählt, sondern auch gesungen oder im Sprechgesang vorgetragen. In einigen Regionen West- und Zentralafrikas werden Fabeln zu regelrechten Singspielen ausgebaut, mit Wechselgesängen, bei denen die Zuschauer/innen dann mit Begeisterung einen eigenen Part übernehmen.

Filmisches Beispiel: Die Abenteuer der kleinen Giraffe Zarafa

Seit geraumer Zeit hat sich in westafrikanischen Regionen das französische Wort "Griot" beziehungsweise "Griotte" als Bezeichnung für Geschichtenerzähler und -erzählerinnen in afrikanischer Tradition durchgesetzt – aus europäischer Sicht ist diese Rolle vergleichbar mit derjenigen des mittelalterlichen Troubadours. Es wäre allerdings falsch anzunehmen, dass es grundsätzlich nur professionelle Griots und Griottes wären, die Fabeln oder Märchen erzählen. In traditionellen Dorfgemeinschaften gibt es verschiedene Personen, die diese Aufgabe übernehmen – oft sind es die Dorf- oder Familienältesten.
Dies entspricht auch der Situation im Film Zum Filmarchiv: "Die Abenteuer der kleinen Giraffe Zarafa". Dramaturgisch schafft die Konstellation eine authentische und vertraute Atmosphäre: Die Zuschauer/innen im Kino identifizieren sich mit den staunenden Kindern, und sind bereit, sich gewissermaßen zu ihnen zu setzen und der Stimme des alten Mannes zu lauschen. Dass dieser die Personen seiner Erzählung als Holzfiguren aufstellt, unterstreicht die Authentizität des Erzählten und gibt ihr zugleich etwas Mythisches. Man kann darin einen Anklang an den afrikanischen Geisterkult sehen. Die geschnitzten Figuren besitzen magische Qualitäten und übertragen etwas von der Lebenskraft ihrer Vorbilder auf denjenigen, der sie berührt.

Der Reiz der Geschichte in der Geschichte

Das dramaturgische Modell eines Erzählenden, der mit seiner Geschichte eine geheime Wahrheit entfaltet und mitunter auch selbst dieser erzählten Welt angehört, ist wohl keine rein afrikanische Erfindung. Es diente als Bauprinzip in Giovanni Boccaccios Decamerone (1349-1353) oder in der morgenländischen Märchensammlung Tausendundeine Nacht. Im deutschsprachigen Raum wurden vor allem die Märchenzyklen eines Wilhelm Hauff berühmt, von denen aus eine Spur in den Film des 20. Jahrhunderts führt, zur DEFA-Adaption (Wolfgang Staudte, DDR 1953).
Eine Geschichte in der Geschichte zu erzählen bietet reizvolle Möglichkeiten, die Wirkung des Erzählten zu unterstreichen, zu spiegeln oder ihm mit dem distanzierten Blick eines inzwischen gereiften Protagonisten die Schärfe zu nehmen. So etwa kennt man es aus Filmen wie "Der Name der Rose" (Jean-Jacques Annaud, BRD, Italien, Frankreich 1986) oder Zum Filmarchiv: "Stand by Me – Das Geheimnis eines Sommers" (Stand by Me, Rob Reiner, USA 1986), in denen ein Erzähler auf etwas zurückblickt, was ihn in seiner Jugend bewegt und geprägt hat. Der Erzähler kann aber auch eine Kunstfigur sein, etwa ein Engel, oder auch ein Toter wie in Billy Wilders "Sunset Boulevard" (USA 1950).
Erzählen – ganz gleich, ob unter afrikanischen Affenbrotbäumen oder im Kinofilm der Gegenwart – hat immer mit Vertrauen zu tun: Der Erzähler ist der Hüter eines verborgenen Wissens, das er nach und nach offenbart. Er darf die Neugier seiner Zuhörer und Zuhörerinnen für die Wirkung der Geschichte nutzen, aber er darf ihr Vertrauen nicht missbrauchen.

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