Zum Filmarchiv: "Das Cabinet des Dr. Caligari" (Robert Wiene, Deutschland 1920) war schon ein berühmter Film, bevor ihn überhaupt jemand auf der Leinwand gesehen hatte. Als er im Februar 1920 im Berliner Marmorhaus-Kino uraufgeführt wurde, war er bereits Stadtgespräch. Später machte er auch im Ausland Furore und galt als "berühmtester deutscher Film". Und "Das Cabinet des Dr. Caligari" ist bis heute, fast hundert Jahre danach, ein Film, der immer wieder von Filmkritik und Forschung diskutiert wird – aus immer wieder anderen Blickwinkeln.

Du musst Caligari werden!

Das Cabinet des Dr. Caligari, restauriertes Szenenbild 2013/14 (Foto: © Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden (Murnau-Stiftung), digitale Bildrestaurierung: L'Immagine Ritrovata – Film Conservation & Restoration, Bologna)

Zu Beginn des Jahres 1920 erschienen überall in Berlin Plakate mit einem geheimnisvollen Slogan: "Du musst Caligari werden!" Sie kündigten den neuen, vollständig expressionistisch gestalten Film der Decla-Film-Gesellschaft an: "Das Cabinet des Dr. Caligari" . Schon während des Jahres 1919 hatte die Filmpresse wiederholt gefordert, dass es nun an der Zeit wäre, den Expressionismus – und damit auch die Kunst – in das neue Medium Film zu bringen. Ob ein Film, dieses Vergnügen für die Massen, auch den Anspruch erheben könne, ein Kunstwerk zu sein wie ein Theaterstück oder ein Roman, war eine Debatte, die im Jahrzehnt zuvor leidenschaftlich geführt worden war ("Kino-Debatte"). Der Expressionismus, jene junge wilde Kunst in Malerei, Theater und Literatur, die durch den Weltkrieg noch einmal befeuert worden und am Ende der 1910er-Jahre etabliert war, schien genau die Richtung zu sein, die auch Filme zu Kunst machen konnte. So stand der sehnsüchtig erwartete "erste expressionistische Film" tatsächlich nicht am Anfang, sondern am Ende der expressionistischen Welle in der Kunst. Als die Decla-Film-Gesellschaft dann mit "Das Cabinet des Dr. Caligari" das expressionistische Experiment wagte, war ihr Erfolg auch der Marketing-Abteilung zu verdanken, die geschickt den Hype um den expressionistischen Film nutzte.

Von der Kunst- zur Gesellschaftskritik

Im folgenden Jahrzehnt gelang nicht nur "Das Cabinet des Dr. Caligari" , sondern dem deutschen Film insgesamt ein Siegeszug um die Welt: Filme galten nun als Kunstwerke. Sie waren jedoch Kunstwerke einer neuen Art, da sie nicht von einem einzelnen Meister produziert wurden, sondern von einem Team. Diese Tatsache machte sich der Soziologe und Filmtheoretiker Siegfried Kracauer zunutze, der Filme nicht als Kunstwerke, sondern als Erzeugnisse der Gesellschaft betrachtete. Kracauer verwendete Filmbetrachtungen, um Gesellschaftskritik zu betreiben. 27 Jahre nach der Uraufführung von "Das Cabinet des Dr. Caligari" erschien in den USA Kracauers Buch "From Caligari to Hitler" (1947, dt.: Von Caligari zu Hitler), das die akademische Sicht auf den Film nachhaltig prägte.

Siegfried Kracauers "Von Caligari zu Hitler"

Foto: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden (Murnau-Stiftung), digitale Bildrestaurierung: L'Immagine Ritrovata – Film Conservation & Restoration, Bologna

Kracauers These besagt: In Filmen, die nicht von einem einzelnen Künstler in einem bewussten Schöpfungsakt geschaffen werden, sondern in Zusammenarbeit eines Kollektivs von vielen Menschen, manifestieren sich am ehesten unbewusste Dispositionen, die in der Gesellschaft vorhanden sind. Er betrachtet daher die Filme der Weimarer Republik, um aus ihnen abzulesen, was die Deutschen in dieser Zeit im Inneren bewegt haben könnte. "Das Cabinet des Dr. Caligari" spielt, wie schon aus dem Titel des Buchs hervorgeht, in Kracauers Betrachtung eine zentrale Rolle: Er ist der erste einer Reihe so genannter "Tyrannenfilme". Dabei kommt der Rahmenhandlung eine besondere Bedeutung zu: Wird in der Binnenhandlung die Autoritätsfigur Caligari noch als Scharlatan enttarnt und besiegt, wird in der Rahmenhandlung der aufklärerische Detektiv für wahnsinnig erklärt und in die Zwangsjacke gesteckt. Dies zeigt laut Kracauer, dass die Deutschen sich insgeheim nach einem Tyrannen sehnten. So benutzt Siegfried Kracauer die Filmgeschichte der Weimarer Zeit, um den Aufstieg Hitlers zu erklären.

Psychoanalytische Interpretation

Foto: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden (Murnau-Stiftung), digitale Bildrestaurierung: L'Immagine Ritrovata – Film Conservation & Restoration, Bologna

Während Kracauer rückblickend Filme benutzte, um mit ihnen Entwicklungen zu erklären, die später stattgefunden hatten, konzentrierten sich andere Interpretationen darauf, Filme als Erzeugnis der Entwicklungen zu sehen, aus denen sie hervorgegangen waren. So entstand "Das Cabinet des Dr. Caligari" zur großen Zeit der Psychoanalyse und reflektiert diese neue Behandlungsmethode, aber auch die Unsicherheit der Öffentlichkeit gegenüber der Autoritätsfigur des Psychiaters: Der Film zeigt den Psychiater als Bösewicht, die traumatisierten Figuren Cesare, Franzis und Jane und die verzerrte Welt der Binnenhandlung als Eintauchen ins Innere von Franzis' Seele. Doch was wäre eigentlich der "Weg zu seiner Gesundung", den der Doktor seinem Patienten im letzten Zwischentitel des Films in Aussicht stellt? Sind in Franzis' Wahnsinnsvision etwa die Gründe seiner Krankheit verschlüsselt? So könnte der Versuch einer Psychoanalyse aussehen: Im Kern von Franzis' verzerrter Vision begehren zwei junge Männer dieselbe Frau, die schöne Jane. Der Somnambule Cesare, dieses eigenartige Halbwesen, schafft den einen Konkurrenten aus dem Weg und dringt in Janes Schlafzimmer ein. In dieser Lesart ist Cesare ein Doppelgänger Franzis', der seine geheimen Wünsche ausführt. Wir werden also Zeuge, wie ein junger Mann eine Geschichte erfindet, in der er seine eigenen Schuldgefühle verarbeitet. Vielleicht kann Franzis gesunden, wenn er wie Ödipus erkennt, dass er selbst der Täter ist.

Kino der Kriegsneurose

Im Jahr 2014, in dem "Das Cabinet des Dr. Caligari" während der Berlinale in neu restaurierter Fassung wiederaufgeführt wird, sind einhundert Jahre vergangen seit Beginn des Ersten Weltkriegs, der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", die allen Beteiligten dieses Films noch in den Knochen saß, als sie ihn im Jahr 1919 schufen. Neuere Interpretationen sehen Filme wie "Das Cabinet des Dr. Caligari" als Reflektion dieser Katastrophe. So führt Anton Kaes in "Shell Shock Cinema" (2009) aus, dass Soldaten, die den Krieg in den Schützengräben erlebt hatten, oft traumatisiert daraus zurückkehrten. Die Militärpsychiatrie hatte die unrühmliche Aufgabe, vermeintliche Simulanten zu erkennen, um sie möglichst schnell wieder an die Front zurückzuschicken. Der Somnambule Cesare zeigt die typischen Symptome einer Kriegsneurose ("Shell Shock"), und die Frage, mit der er zu Beginn des Films konfrontiert wird, ist die Frage, die auch die Soldaten in den Schützengräben stellen: "Wie lange werde ich leben?" So gesehen ist "Das Cabinet des Dr. Caligari" ein Versuch, das traumatische Erlebnis des Weltkriegs im Kino zu verarbeiten.

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