Kategorie: Hintergrund
Ach, Du lieber Gott!
Das brandneue Testament stellt ein religiöses Weltbild auf den Kopf
Jaco Van Dormael behandelt in seinem Film religiöse und philosophische Fragen, die zur Diskussion über die Bedeutung des Glaubens und die Stellung von Religion in westlichen Gesellschaften anregen.
In Jaco Van Dormaels Zum Filmarchiv: "Das brandneue Testament" umkreist drei Themen, die in der theologischen, aber auch in der philosophischen Tradition zusammenhängen. Indem er sich zentralen Fragestellungen auf spielerische Weise nähert, versucht er diese an unserer modernen säkularisierten Gesellschaft zu messen. Das übergreifende Thema ist die Theodizee-Frage nach der Rechtfertigung Gottes. Daran anknüpfend hinterfragt der Film auch die Rolle des Zufalls in der Schöpfung und die Existenz eines gütigen Gottes. Bei Van Dormael ist dieser Gott eindeutig als Tyrann charakterisiert. Er denkt sich Plagen aus und schafft Regeln, die den Menschen das Leben schwer machen. Er wirkt dabei wie ein Hacker, der in seinem abgedunkelten Arbeitszimmer Programme schreibt, die dann an irgendeinem Ort auf der Welt Schaden anrichten.
Die Frage nach der Güte Gottes
Auch seine Tochter Éa will ihm das Handwerk legen. Damit ist Van Dormaels Gott als eine ironische Abwandlung der klassischen Tradition erkennbar. Denn Güte ist eine ganz wesentliche Eigenschaft des Gottes, von dem sich die christlichen Religionen über viele Jahrhunderte hinweg eine immer klarer definierte Vorstellung gemacht haben. Ein fieser Gott ist ein Widerspruch in sich. Allerdings gab es schon in der Geschichte des frühen Christentums Strömungen, die einen schlechten Schöpfergott von einem guten unterschieden. Diese Strömungen werden häufig unter dem Stichwort "Gnosis" zusammengefasst: die Lehre der Erkenntnis, die dazu verhilft, die schlechte Welt als relativ zu durchschauen. Diese Welt mit allen ihren Fehlern stammt von einem Gott, der selbst nicht gut ist. Er ist ein „Schöpfer“ ("Demiurg" lautet das griechische Wort), über dem noch ein anderer, eigentlicher Gott steht, den man in der Gnosis erkennt.
Der Demiurg wurde manchmal mit dem Gott des Alten Testaments identifiziert, während Jesus seine Anhänger mit dem gütigen Gott vertraut macht, der über dem Demiurgen waltet. Der Regisseur Jaco Van Dormael spielt mit diesen Stadien der Offenbarung. Er zeigt Jesus, der als Statue im Wohnzimmer der Familie Gottes zur Untätigkeit verurteilt ist. Seine jüngere Schwester Éa muss die unvollständige Offenbarung korrigieren und ergänzen, indem sie zu den zwölf Aposteln noch sechs weitere findet.
Mythische Zahlenspiele
Van Dormael gibt beiläufig eine Begründung dafür, warum 18 Apostel besser sind als zwölf. Beim Eishockey, sagt Éas Bruder JC, stehen zwölf Spieler auf dem Feld, beim Baseball 18. Éas Mutter sammelt Baseballkarten, das ist auch schon der wesentliche Grund, warum die 18 Apostel das bessere "Team" sind. Man kann hier von einer Säkularisierung (Verweltlichung) religiöser Motive sprechen. In der Welt des Alten Testaments hatten viele Zahlen eine spirituelle Bedeutung. Zwölf steht für die Vollzähligkeit der Stämme des von Gott auserwählten Volkes Israel. Alles, was mit der Zahl Zwölf in Verbindung stand, wurde als komplett empfunden. Auch von Jesus heißt es, dass er zwölf Apostel erwählte, weil er mit ihnen das neue Volk Israel beziehungsweise die neue Gemeinde stiften wollte. Éa hingegen möchte 18 Apostel, ohne dass es dafür einen religiösen Grund geben würde.
Der Zufall in der Schöpfung
Es wird damit aber doch deutlich, dass die Lehre von Jesus ergänzungsbedürftig ist. Die Menschen brauchen eine neue Offenbarung, ein noch Neueres Testament. In diesem Testament kommt es ganz wesentlich darauf an, dem Zufall wieder zu seinem Recht zu verhelfen. Das Bild von Gott, der zu Beginn in einem riesigen Aktenarchiv an seinem Computer sitzt, verweist auf die klassische Vorstellung, dass Gott mindestens allwissend ist – und damit das Schicksal der Menschheit vielleicht sogar vorherbestimmt. Dagegen wissen die Menschen über ihr künftiges Geschick nichts mit Sicherheit. Sie können sich als frei erleben, weil sie in jedem Moment dazu aufgerufen sind, etwas aus ihren Leben zu machen.
Mit der Idee der "Deathleaks" verändert Van Dormael diese Ausgangslage entscheidend: Wenn die Menschen plötzlich wissen, wie viel Zeit ihnen noch bleibt, schließt sich gleichsam das Universum. Er zeigt das auch auf komische Weise, etwa in dem Running Gag um die Figur Kevin, der sich in spektakulären Mutproben immer wieder dem Tod aussetzt. Doch sein Moment ist noch nicht gekommen. Éas Eingriff in die göttliche Schöpfung hat die Menschen ihrer Freiheit – auch der Freiheit, den Zeitpunkt ihres Todes selbst zu bestimmen – beraubt. "Das brandneue Testament" hat als Ziel die Wiedergewinnung dieser Freiheit – und damit auch des Zufalls. Ohne den Zufall wäre das Leben tot.
Die Rechtfertigung der Schöpfung
Damit findet Van Dormael auch eine Antwort auf eine berühmte Problemstellung, die Menschen seit der Aufklärung besonders beschäftigt. Wie lässt sich der Zustand der Welt mit dem Glauben an einen gütigen Gott vereinbaren? Die Antwort darauf deutet der Regisseur mit einem anstößigen Bild an: Wenn Gott in Kontakt mit den Menschen treten will, muss er erst einmal in eine Waschmaschine steigen. Später landet er noch in einer Mülltonne und im Obdachlosenasyl. Er ist ein fieser Gott – aber das liegt auch daran, dass er den Kontakt mit der Wirklichkeit verloren hat.
Um diesen Kontakt wiederzufinden, muss er seine Göttlichkeit, mit der es ohnehin nicht weit her ist, einbüßen. Welcher Gott würde schon freiwillig in Brüssel leben wollen? Die beste aller möglichen Welten, von der der Philosoph Leibniz sprach, gibt es bei Jaco Van Dormael nur, wenn Gott aufhört, Gott zu sein. Theodizee, also die Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel der Welt, kann nicht mehr gelingen. Zwischen einem guten Gott und der realen Welt besteht eine Kluft, die nicht zu überwinden ist.
Gott ist unergründlich
Die Schlussfolgerung daraus zeigt der Film ganz anschaulich am Beispiel der sechs neuen Apostel, aber auch des (legasthenischen) Chronisten Victor: Sie lernen ihre Schicksale zu akzeptieren und finden gerade auf diese Weise eine Freiheit, die ihnen kein Gott schenken kann. Die Musik, die abstrakteste und zweckloseste Form der schönen Künste, wird bei Van Dormael zu einer Metapher für die Unergründlichkeit der Schöpfung. Doch gerade diese Unergründlichkeit macht auch ihre Schönheit aus.
Schließlich deutet der Film auch noch an, was nach der Religionskritik an die Stelle der Vorstellung von einem alles überblickenden, guten Gott getreten ist: die Möglichkeit, dass es viele parallele Universen gibt, in denen das Leben oder die Materie oder die Natur Variationen unserer Realität ausprobiert. So kann Gott plötzlich in einer Arbeitskolonne in Usbekistan (in einer Strafkolonie?) mit dem Zusammenschrauben von Waschmaschinen beschäftigt sein. Ob diese Geräte auch wieder als Transporter in andere Wirklichkeiten dienen? Das ist ein Gedanke, der so offen bleiben muss wie die theologischen Antworten, die Jaco Van Dormael in "Das brandneue Testament" für ein paar uralte Fragestellungen findet.