Kategorie: Hintergrund
Ein Haus mit vielen Räumen
Spiritualität und Religion in Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger
Glaubensfragen: Der Junge Pi sieht sich zugleich als Hindu, Christ und Muslim. Seine Odyssee im Pazifik wird für ihn zu einer spirituellen Reise, bei der er sich mit seinem Glauben und mit seinem Platz in der Welt auseinandersetzt.
Die fabelhafte Geschichte des schiffbrüchigen Jungen Pi ist im Roman von Yann Martel wie in der filmischen Adaption Zum Filmarchiv: "Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger" (Life of Pi, Ang Lee, USA 2012) durchgängig religiös aufgeladen. So berichtet Martel bereits in der Vorbemerkung des Romans von der Begegnung mit einem alten Mann im indischen Pondicherry, der mit den Worten "Ich habe eine Geschichte, die Ihnen den Glauben an Gott geben wird" seine Neugier weckt. Der gerettete Pi studiert später in Kanada Zoologie und Religionswissenschaften und widmet seine Examensarbeit einem jüdischen Mystiker des 16. Jahrhunderts. Symptomatisch für das frühe Interesse des Protagonisten am Transzendentalen ist die selbst initiierte Änderung des kuriosen Vornamens Piscine in Pi: In dem griechischen Buchstaben, "in jener rätselhaften, irrationalen Zahl, mit der die Wissenschaftler das Universum begreifen wollen", findet er seine Zuflucht vor Mobbern, die ihn wegen der Doppelbedeutung seines Namens verspotten.
Götter als Superhelden
Der Filmheld Pi wächst in einer hinduistisch geprägten Umgebung in Südindien als Sohn eines rationalistisch veranlagten Zoodirektors auf, der Religion mit Dunkelheit gleichsetzt. Seine Mutter erzählt dem Knaben fesselnde Geschichten aus der Welt der Hindu-Götter, die für ihn "Superhelden meiner Kindheit" sind. Pis früh erwachendes Interesse für religiöse Phänomene überrascht umso mehr, als seine Familie religiösen Fragen gleichgültig bis ablehnend gegenübersteht. Während sein Vater als erfolgreicher Geschäftsmann konsequent den Prinzipien der Vernunft folgt, hat sein älterer Bruder vor allem Cricket, Filme und Musik im Kopf. Die religiöse Haltung der Mutter bleibt im Film vage – so wie generell der Roman dem Themenkreis des Glaubens viel mehr Platz einräumt als die Verfilmung. Im Ergebnis ist Pi im Familienkreis mit seiner Sehnsucht nach religiöser Erleuchtung allein; er sucht folgerichtig in seiner Umgebung weiter.
Pi und seine Superreligion
Mit 14 Jahren lernt Pi bei einem Sommerausflug das Christentum kennen. Als er in einer Kirche seinen Durst aus dem Weihwasserbecken löscht, kommt er mit dem Konzept der Nächstenliebe in Berührung: Wider Erwarten schimpft ihn der Priester nicht aus, sondern spricht ihn freundlich an und verwickelt ihn in ein Gespräch über Glaubensfragen. Der Junge ist fasziniert von der Idee der Liebe, die Jesus so viel Leid ertragen lässt und die Pis Lebenserfahrung und Vorstellung der Allmacht des Göttlichen diametral gegenübersteht. Zugleich hinterfragt Pi die für ihn unverständlichen Aspekte des christlichen Glaubens. Ebenfalls fasziniert ist Pi vom Islam, den er im muslimischen Viertel seiner Heimatstadt erkundet. Besonders scheint ihn die gemeinschaftliche Gebetszeremonie der Muslime in der Moschee anzusprechen. Pi entdeckt bei seinen Vergleichen der Glaubensinhalte von Hinduismus, Christentum und Islam viele Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Bemerkenswert ist die Konsequenz, die er aus diesen Erkundungen zieht: Getrieben von einem selbstbewussten Eklektizismus sucht er sich aus den drei Weltreligionen die ihm zusagenden Elemente heraus und schafft sich so eine Art individueller Superreligion. Er nimmt sich sogar die Freiheit, alle drei Religionen zu praktizieren. In der Rahmenhandlung erfährt man zudem, dass der erwachsene Pi später an der Universität in Kanada über die jüdische Kabbala doziert.
Ein religiöser Freigeist
Symbolischer Ausdruck dieser Tri-Konfessionalität ist die vom Vater übernommene Weisheit: "Glaube ist ein Haus mit vielen Räumen." Sie bezieht sich offenkundig auf das Bibelwort: "In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen." (Johannes 14,2; Lukas 15,11-32) In ökumenischer Lesart besagt der Vers, dass alle Gottesgläubigen erlöst werden können, unabhängig von ihrer Konfession. Die irritierten Repräsentanten der Weltreligionen in seiner Heimatstadt Pondicherry, aber auch seine verwirrten Eltern fordern den Freigeist auf, sich für eine Religion zu entscheiden. Die Mutter zeigt immerhin Verständnis für seine spirituellen Recherchen: "Er ist jung, er sucht nach seinem Weg." Pis säkular eingestellter Bruder Ravi dagegen verspottet ihn – im Roman bringt er das auf die prägnante Formel: "Wart's nur ab, bald rennst du am Donnerstag in den Tempel, am Freitag in die Moschee, am Samstag in die Synagoge und am Sonntag in die Kirche."
Darf man nur einem Herrn dienen?
Kann man mehr als einer Religion gleichzeitig anhängen? Während Pi diese Schlüsselfrage bejaht, werden viele Gläubige und Theologen/innen dies verneinen. Und mag das Bekenntnis zu einer Religion noch im subjektiven Ermessen liegen, so schließt die Mitgliedschaft etwa in einer christlichen Kirche oder in einer muslimischen Gemeinde diejenige in einer anderen Glaubensgemeinschaft aus. Andererseits stoßen solche Exklusivitätsansprüche an ihre Grenzen, wenn es um Religionen wie Bahai geht, die Versatzstücke aus mehreren Religionen verschmelzen. Mit ihren utopischen Implikationen erinnert Pis ausgeprägte religiöse Toleranz an die "Ringparabel" in Lessings letztem Drama Nathan der Weise (1779), in dem am Beispiel des Wettstreits der drei monotheistischen Religionen Christentum, Islam und Judentum für die Ideale der Toleranz und Humanität geworben wird.
Glaubenskämpfe auf hoher See
Die Auseinandersetzung mit Gott prägt auch Pis Überlebenskampf während seiner Odyssee im Pazifik. Als ein schwerer Sturm den 17-jährigen Filmhelden in eine tiefe Verzweiflung stürzt, die ihn an Gott zweifeln lässt, schreit er zum Himmel: "Ich habe alles verloren! Ich ergebe mich! Was willst du denn noch?" Die Klage erinnert an die Denkfigur der Theodizee, also der Frage, wie das Leid auf Erden zu rechtfertigen ist, wenn Gott doch allmächtig und gut ist. Sie evoziert aber auch eines der sogenannten Sieben Letzten Worte Jesu Christi am Kreuz: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mk 15,34; Mt 27,46). Doch auch in dieser Sinnkrise bleibt Pi standhaft und gibt die Hoffnung nicht auf. Neben seinem Überlebensinstinkt, seinem Verstand und einer Rettungsfibel im Boot hilft dem Teenager der Gottesglaube, die lebensgefährliche Lage zu überstehen. Ja, Pi ist am Ende überzeugt, dass Gott zu seiner Rettung beigetragen hat.
Eine Irrfahrt als innere Reise
Zugleich findet der Jugendliche Halt im einzigen anwesenden Lebewesen, dem hungrigen Tiger Richard Parker, und die Schönheiten der Natur spenden ihm Trost. Wenn der Schiffbrüchige nachts einen riesigen Schwarm phosphorisierender Quallen bewundert, von einem hochspringenden leuchtenden Wal überrascht wird oder der ewige Wellengang des Meeres wie von Zauberhand in einer spiegelglatten Oberfläche zum Erliegen kommt, dann entfaltet die Regie mit Hilfe imposanter Zum Inhalt: 3D-Bildgestaltungen nicht nur eine überwältigende visuelle Magie, sondern ermöglicht Pi eine spirituelle Hingabe angesichts der Majestät der Natur, hier verstanden als Schöpfung. Insofern kann die 227-tägige Irrfahrt auch als innere Reise gedeutet werden, die ihn zu einer intensiven Reflexion über die Vergänglichkeit zwingt. Manche Interpreten/innen sehen im bengalischen Tiger sogar eine Metapher für die inneren Dämonen Pis oder eine Projektion für das Böse in sich, das er in der Einsamkeit wie ein Eremit zu zähmen lernt.
Fragen der Moral
Jenseits religiöser Fragen wirft die existenzielle Situation auch grundlegende ethische Fragen auf. So stürzt der Überlebenskampf Pi in ein moralisches Dilemma: Um nicht zu verhungern, muss er als überzeugter Vegetarier auf hoher See Fisch essen. Im Roman mutiert ein blinder Franzose, der auf einer Insel festsitzt, gar zum Kannibalen. Pis fabelhafte Geschichte klingt so unwahrscheinlich, dass es vielen Lesern/innen und Zuschauern/innen zunächst schwerfällt, sie zu "glauben". Diese Skepsis greifen Buch und Film am Ende folgerichtig auf, wenn Pi den Gutachtern der japanischen Schiffseigner eine alternative Version der Story erzählt. Mit diesem narrativen Kunstgriff geben sie den Rezipienten/innen hintersinnige Anstöße zum Nachdenken über den menschlichen Hang zur Beschönigung unangenehmer Tatsachen und über die manchmal verschwimmenden Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion.