Kategorie: Hintergrund
Sozialdrama und magischer Realismus – die Filmsprache in "Bird"
Andrea Arnolds Filme stehen in der britischen Tradition des "kitchen sink realism", und gehen zugleich neue Wege – eine filmgeschichtliche Einordnung

Die 12-jährige Bailey liegt auf einer Wiese. Eine kleine Flucht aus der rauen Sozialbausiedlung, in der sie aufwächst. Ein Pferd weckt sie aus dem Dämmerschlaf, dann kommt ein plötzlicher Wind auf. Umspielt von Sonnenstrahlen tapst ein Mann heran, der Bailey aufgrund seiner kindlichen Unbefangenheit zunächst suspekt ist. "Ich bin Bird. Wie heißt du?", stellt er sich vor. Schnell bilden die beiden eine Art Schicksalsgemeinschaft, bei der lange in der Schwebe bleibt, was es wirklich mit dem seltsam entrückten Sonderling auf sich hat.
Bis zu dieser ersten Begegnung entwirft die britische Regisseurin Andrea Arnold in "Bird" denselben Sozialrealismus, der bereits ihren Zum Inhalt: Kurzfilm "Wespen" ("Wasp" , GB 2003) oder ihre Zum Inhalt: Spielfilme Zum Filmarchiv: "Fish Tank" (GB 2009) und Zum Filmarchiv: "American Honey" (GB/USA 2016) auszeichnete. In Bildern, die zwischen authentischer Dokumentation (Glossar: Zum Inhalt: Dokumentarfilm) und sanfter Poesie mäandern, zeigt Arnold immer wieder harte Lebensumstände. Im Zentrum stehen jeweils junge Frauen, die aus engen Verhältnissen ausbrechen.
Britischer Kitchen Sink Realismus
Mit ihrem sozialkritischen Ansatz steht Arnold in der Tradition der Filmschaffenden, die das britische Kino ab dem Ende der 1950er- bis in die Mitte der 1960er-Jahre prägten. Inspiriert vom italienischen Zum Inhalt: Neorealismus und der französischen Zum Inhalt: Nouvelle Vague sowie den Texten aufstrebender Autoren, die die Arbeiterklasse Großbritanniens unter dem Schlagwort "Angry Young Men" darstellten, entwickelte sich ein sozial aufgeschlossenes Kino, das Themen wie Armut und Klassenschranken, Rassismus, Jugendkultur und unkonventionelle Lebens- und Liebeskonstellationen erschloss. Erst in dokumentarischen Arbeiten der Free Cinema-Bewegung, dann in daraus hervorgehenden Sozialdramen der British New Wave. Der realistische Einblick in die Wohnquartiere der Working Class wurde mit dem Etikett "Zum externen Inhalt: kitchen sink realism (öffnet im neuen Tab)" (Spülbecken-Realismus) versehen. Stilistische Gemeinsamkeiten der meist in Schwarz-Weiß (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung) gedrehten Filme sind ihre klare regionale Verankerung (oft im deindustrialisierten Norden), die Umgangssprache der Figuren und die Dreharbeiten an realen Orten außerhalb der Studios (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set).
Als Initialzündung der Filmströmung gilt "Der Weg nach Oben" ("Room at the Top" , Jack Clayton, GB 1958), den der Original- Zum Inhalt: Trailer als "raw savage story of our times" anpreist. "Ich bin Arbeiterklasse! Arbeiterklasse und stolz darauf!" bekennt der Protagonist Joe, der in eine höhere soziale Klasse einheiraten will, aber eine andere, viel ältere Frau liebt. Weitere beispielhafte Kitchen-Sink-Filme sind "Bitterer Honig" ("A Taste of Honey" , Tony Richardson, GB 1961), in dem die 17-jährige Jo ein Kind von einem Schwarzen Matrosen erwartet und provokante Sätze wie "Ich hasse Mutterschaft" von sich gibt, oder "Nur ein Hauch Glückseligkeit " ("A Kind of Loving" , John Schlesinger, GB 1962), dessen innovative Straßenszenen viel Zeitkolorit transportieren und besonders deutlich an der lebensnahen Herangehensweise der Nouvelle Vague angelehnt sind.
Ken Loach und Andrea Arnold führen die Tradition fort
Die British New Wave war kurzlebig, hinterließ aber Impulse. Insbesondere Ken Loach baute die neue Darstellung prekärer und jugendlicher Milieus nahtlos aus. Sein Langfilmdebüt "Poor Cow – Geküßt und geschlagen" ("Poor Cow" , GB 1967) folgt der jungen Joy, die mit ihrem kleinen Sohn auf sich allein gestellt ist. Loachs zweiter Film Zum Filmarchiv: "Kes" (GB 1969) stellt den 15-jährigen Außenseiter Billy ins Zentrum, der in Armut aufwächst, unter autoritären Lehrern leidet und im Kontakt zu einem Falken Trost findet.
Seit ihrem ersten Kurzfilm "Milk" (GB 1998) schreibt Andrea Arnold den Geist der Kitchen-Sink-Filme und den von Ken Loach fort. Die von ihr gezeigten Milieus sind noch prekärer, die Hauptfiguren weiblich. Zunächst passt auch "Bird" in dieses Bild. Bailey wächst in der Unterschicht der südenglischen Hafenstadt Gravesend auf, wo es an Mitteln und Perspektiven fehlt. Zwischen Geschirr, Müll und graffitibeschmierten Häuserwänden müssen die Jugendlichen im Film selber schauen, wo sie bleiben. Die Handkamera (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen) rückt nah an die Figuren heran und folgt ihnen unmittelbar. Die dokumentarisch anmutenden Bilder vermitteln die Lebensrealität sehr direkt.
"Bird" als magisches Element
Mit Birds plötzlichem Erscheinen auf der Wiese lässt Arnold das Sozialdrama ins Surreale tendieren. Dadurch entsteht ein Zum externen Inhalt: magischer Realismus (öffnet im neuen Tab), der in der Malerei und Literatur der 1920er-Jahre wurzelt. Wo der reine Sozialrealismus formal wie inhaltlich einen starken Realitätsbezug hat, durchbricht der magische Realismus das Alltägliche mit fantastischen Elementen, die unerklärt bleiben. Einerseits etabliert das einen Kontrast zwischen Realität und Fantasie, andererseits verschwimmen die Grenzen beider Pole. Ein diesbezüglicher Klassiker ist "Ein sehr alter Mann mit riesigen Flügeln" ("Un señor muy viejo con unas alas enormes" , Fernando Birri, CU/ES/IT 1988), in dem ein Wirbelsturm einen Mann mit großen weißen Flügeln auf eine Insel weht – fast wie Bird.
Das Magische in "Bird" kündigt sich in Baileys besonderem Verhältnis zu Tieren an. Mal filmt Bailey eine Wespe, mal sitzt ein Schmetterling auf ihrer Hand. Direkt am Anfang scheint sie mit einer Möwe zu kommunizieren, im weiteren Verlauf zeigt Arnold wiederholt Vögel, die wie in ihren anderen Filmen den Wunsch nach Freiheit symbolisieren. Baileys Rückzüge in die Natur dienen als Ausbrüche aus dem harten Leben. Umso besser passt es, dass Bird ihr in der Natur begegnet.
Bald stellt sich die Frage, ob Bird real existiert oder Baileys Fantasie entsprungen ist. Als er nachts nackt auf dem Dach gegenüber steht, reibt Bailey sich die Augen; an anderer Stelle erfährt Bird, dass der Sohn seines vermeintlichen Vaters lange tot ist. Ist Bird also eine Traumfigur, ein Geist? Dagegen spricht, dass er auf Baileys Videos zu sehen ist und mit anderen Figuren interagiert. "Ich bin da", bekräftigt Bird einmal. Als er sich schließlich in ein Vogelwesen verwandelt, schlägt das Pendel endgültig in Richtung Magie aus. Schon davor, als eine Krähe eine Botschaft überbringt, inszeniert Arnold ein eindeutiges Märchenmotiv.
Die Reibung zwischen den magischen Elementen und der sozialen Wirklichkeit prägt "Bird" . Beide Teile gehen ineinander auf, als Bird in Baileys Realität eingreift. Die rätselhafte Freundschaft ist auch ein Baustein für Arnolds Strategie, die Tristesse mit Optimismus aufzuhellen. Diesen transportieren auch ein Graffiti, das "Hope" verkündet, Karaoke-Einlagen oder eine versöhnliche E-Roller-Fahrt zu dritt. Die Botschaft lautet, dass niemand zu klein und unbedeutend ist in dieser Welt – besiegelt durch eine innige Umarmung von Birds Flügeln. Im Abspannsong formuliert die Post-Punk-Band Fontaines D.C. dann einen ironischen Fingerzeig auf den magisch aufgeladenen Sozialrealismus: "Is it too real for ya?"