Kategorie: Hintergrund
Arbeitswelten in den Filmen von Ken Loach
Seit Jahrzehnten widmet sich Ken Loach in seinen Spielfilmen der Arbeitssituation der Working Class - in seiner Heimat England, aber auch über die Grenzen hinweg.
Mit Zum Filmarchiv: "Sorry We Missed You" (GB/FR/BE 2019) setzt Ken Loach seinen künstlerischen Weg unbeirrt fort. In seinem fünf Jahrzehnte umspannenden Schaffen hat sich der streitbare Filmregisseur den Ruf eines Chronisten der britischen Arbeiterklasse und leidenschaftlichen Anwalts sozial Benachteiligter erworben. Das Werk des 1936 geborenen Engländers zeichnet sich nicht nur durch Empathie für die Verlierer/-innen des kapitalistischen Wirtschaftssystems aus, sondern vor allem auch durch einen genauen Blick auf gesellschaftliche Realitäten und analytische Schärfe. Als bekennender Linker galt und gilt sein besonderes Interesse dabei den Auswirkungen, die Liberalisierungs-, Globalisierungs- und Digitalisierungsprozesse für die Angehörigen der Working Class mit sich bringen. Oft genug haben Loachs Darstellungen von Arbeitswelten zukünftige Entwicklungen hellsichtig vorweggenommen.
Arbeit unter privatisierten Bedingungen
In "Riff-Raff" (GB 1991), dem Beginn seiner "Post-Thatcher-Trilogie", finden sich bereits zahlreiche Themen und Motive seines weiteren Schaffens. Auf einer Baustelle in London (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set) bündeln sich die Folgen konservativer Privatisierungspolitik wie in einem Brennglas: Als Wochenlöhner, ohne Verträge und gewerkschaftliche Absicherung angeheuerte Arbeiter/-innen sind einem Subunternehmen wehrlos ausgeliefert. Sie stammen aus allen Teilen des Landes und der Welt, arbeiten illegal unter falschem Namen, befinden sich auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie. Die Baustelle ist ein früheres Krankenhaus, das in Eigentumswohnungen umgewandelt werden soll. Ironisch ist nicht nur dieser Verweis auf die Abwicklung des staatlichen Gesundheitssystems zugunsten privatökonomischer Interessen. Der Protagonist Robert, ein junger Schotte, ist überdies obdachlos. Trotz des humorvoll-kollegialen Miteinanders auf der Baustelle ist es mit der Solidarität nicht weit her. Wenn der redselige Larry die schlechte Bezahlung und die katastrophalen Sicherheitsvorkehrungen beklagt, erntet er nur müdes Lächeln. Als er seine Beschwerde dem Chef vorträgt, wird er gefeuert. Es kommt, wie es kommen muss: Ein Arbeiter stürzt vom nur provisorisch gesicherten Gerüst und kommt schwerstverletzt ins Krankenhaus. Als Reaktion setzen Robert und ein Kollege nachts die Baustelle in Brand – ein hilfloser Akt der Rebellion, der ihre Lage noch verschlimmert.
Schwindende Würde unter "flachen Hierarchien"
Die Erosion eines solidarischen Klassenbewusstseins, einst stolzes Selbstbehauptungsmerkmal der Working Class, wird für Loach zu einem Hauptthema. Der Filmemacher, der die konservative Politik unter der seit 1997 amtierenden Labour-Regierung unter Tony Blair (New Labour) ungebrochen fortgesetzt sieht, findet allenfalls außerhalb Europas zu zaghaftem Optimismus. Nach wahren Begebenheiten schildert er in "Bread and Roses" (GB/DE/FR/ES/IT 2000) einen erfolgreichen Streik selbstorganisierter Putzkräfte in den USA. Die Arbeitsbedingungen der illegal eingereisten Mexikanerin Maya ähneln denen in "Riff-Raff" : Schlechter Lohn mit willkürlichen Abzügen für Arbeitskleidung und Bürokratie, Verbot gewerkschaftlicher Tätigkeit, Hire and Fire.
Das gleiche Bild bietet sich in "The Navigators" (GB 2001), seinem nächsten britischen Film, doch es fällt düster aus. Im Rückblick wird die 1994 eingeleitete Privatisierung der britischen Eisenbahn betrachtet. Vier Gleisbauarbeiter, zuvor Angestellte einer nationalen Institution, werden – nachdem sie eine Abfindung ausschlagen – einer Arbeitsagentur überstellt. Als Preis der Weiterbeschäftigung verzichten sie auf gewerkschaftliche Vertretung, bezahlte Urlaubs- und Krankentage. In einem Imagevideo der Firma werden sie auf die neuen Zeiten eingeschworen: Das Gegeneinander der Tarifparteien sei vorüber, von nun an herrsche partnerschaftliche Kooperation. Es ist die neoliberale Erzählung von flachen Hierarchien, an denen in Wahrheit nur eine Seite verdient. Im Zeichen von Profitmaximierung und Wettbewerb finden sich auch die Protagonisten Paul, Mick, John und Jim als Konkurrenten wieder, die alles tun, um ihren Arbeitsplatz zu behalten. Als es auch hier zu einem Unfall kommt, versuchen sie die Ursache – mangelnde Sicherheitsvorkehrungen – zu vertuschen.
Wie viele Vertreter/-innen des britischen Arbeiterklassenkinos, das in Filmen wie "Ganz oder gar nicht" ("The Full Monty" , Peter Cattaneo, GB 1997) auch zu optimistischeren und populäreren Formen fand, zeigt Loach seine Figuren weniger bei der Arbeit als beim ständigen Kampf um den Arbeitsplatz. So thematisiert er immer wieder die sozialen und psychologischen Folgen der prekären Arbeitsverhältnisse auf Liebe und Familie. In "The Navigators" etwa findet Paul trotz rührender Bemühungen keine Partnerin, Mick hingegen wird von seiner Frau sexuell zurückgewiesen und befindet sich mit ihr in ewigem Streit. In Loachs nüchterner Analyse sozialgeschichtlicher Umbrüche sind solch Episoden nicht nebensächlich: Neben ethischen Mindeststandards gerät im postindustriell-deregulierten Kapitalismus auch das patriarchale Familienmodell der Arbeiterklasse ins Wanken.
Der Weg zum neoliberalen Subjekt
Den bis dahin stärksten Bruch mit einem traditionellen Arbeitsverständnis lieferte Loach mit "It's A Free World" (GB/ DE/ES/IT 2007). In den Mittelpunkt stellt der Regisseur eine Frau, die allerdings kaum zur Heldin taugt. Selbst Kind der Arbeiterklasse und alleinerziehende Mutter gründet Angie eine Zeitarbeitsfirma, mit der sie legal und illegal eingewanderte Arbeitskräfte an Subunternehmen vermittelt. Mit neoliberalem Unternehmergeist bewegt sie sich fließend zwischen Ausbeutung und Selbstausbeutung und bedient sich mit der Zeit immer skrupelloserer Mittel. So fälscht sie Pässe und betätigt sich bald als Vermieterin provisorischer Wohnunterkünfte, die sie umstandslos räumen lässt, als lukrativere Ausbeutungssubjekte auf den Markt drängen. Wie immer gelingt es Loach, die moralischen Verfehlungen seiner Figur nicht etwa an Charakterfragen, sondern am System festzumachen. Nicht zuletzt reagiert er mit diesem Film auf neuere Tendenzen der Globalisierung, auch mit Blick auf die EU-Osterweiterung nach 2004.
Nur vordergründig betrachtet steht in dazwischenliegenden Filmen wie "Raining Stones" (GB 1993), "Mein Name ist Joe" ("My Name Is Joe" , GB 1998), "Sweet Sixteen" (GB/DE/ES 2002) und zuletzt Zum Filmarchiv: "Ich, Daniel Blake" (2016) ein anderes Problem im Vordergrund: die Arbeitslosigkeit. Stets betrachtet Loach deren sozioökonomische Bedingungen. Ohnehin sind in seiner Sicht Arbeitnehmer/-innen nichts anderes als strukturell Arbeitslose, die gerade zufällig Arbeit haben. Es ist diese ständige Drohkulisse, unter der auch das Ehepaar in "Sorry We Missed You" , ein Paketfahrer und eine ambulante Pflegerin, zu leiden hat. Die neuen Möglichkeiten der digitalen Überwachung verschärfen ihre Arbeitssituation zusätzlich. Mit der weitgehenden Entgrenzung von Leben und Arbeit ist eine neue Stufe erreicht: Voneinander isoliert sind die Menschen einer algorithmischen Effizienzlogik überlassen.