Kategorie: Filmbesprechung
"Nico"
Nico ist in ihrem Beruf als Altenpflegerin genauso herzlich und zugewandt wie im Privaten. Doch dann reißt ein brutaler Angriff die Berlinerin jäh aus ihrem Alltag.
Unterrichtsfächer
Thema
Omnipräsent und doch im deutschen Film nahezu unsichtbar: Rassistische Gewalt im öffentlichen Raum ist für viele Menschen in unserem Land eine alltägliche Bedrohung. So auch für die Altenpflegerin Nico, Heldin in Eline Gehrings gleichnamigem Drama. Die Deutsch-Perserin ist eine lebenslustige und selbstbewusste junge Frau, die sich von kleinen Pöbeleien auf der Straße nicht aus der Ruhe bringen lässt. Nachdem sie jedoch Opfer eines rassistischen Überfalls wird, ändert sich alles. Nico fühlt sich fortan im öffentlichen Raum unwohl, Geräusche und Menschenmengen rufen in ihr Erinnerungen an Schläge, Tritte und Hilflosigkeit wach. Zunehmend zieht sich zurück, auch von ihrer besten Freundin Rosa. Um sich aus der Rolle des Opfers zu befreien und für zukünftige Angriffe zu wappnen, vertraut sie sich einem Karatetrainer an. Doch ist Kampfsport wirklich das Heilmittel für Nicos angestaute Wut?
Bruch mit stereotypen Darstellungen
In ihrem Film erzählen Regisseurin Eline Gehring, Produzentin und Hauptdarstellerin Sara Fazilat und Kamerafrau Francy Fabritz, die gemeinsam auch das Zum Inhalt: Drehbuch geschrieben haben, eine Geschichte, die gleich mehrere Leerstellen des deutschen Films sichtbar macht und ein Stereotyp nach dem anderen dekonstruiert. Da sind zuallererst Hauptfigur Nico und ihre Freundin Rosa, die in fließendem Wechsel akzentfreies Deutsch und Persisch sprechen, im Späti "vorglühen" und anschließend auf einer Party im Freien ausgelassen tanzen und feiern. Damit rangieren sie weit abseits jenes Stereotyps unterdrückter migrantischer Frauen, das vor allem das deutsche Fernsehen gerne inszeniert. Deutlich beiläufiger, aber nicht weniger effektiv, sprengen Nebenfiguren wie die weiße Dealerin im Park oder Spaziergängerinnen mit Hijab, die über Dildos philosophieren, rassistische Schablonen unserer Medien- und Alltagswelt.
Rassismus als zentrales Thema
Vor allem aber ist es das zentrale Thema rassistischer Gewalt, das die drei Filmemacherinnen in "Nico" in den Fokus rücken. Sowohl auf stilistischer wie auch narrativer Ebene schafft der Film dabei große Nähe zu seiner Hauptfigur und ermöglicht tiefe Einblicke in ihre Erlebnis- und Gefühlswelt. Es ist allein Nicos Geschichte, die das Drehbuch erzählt, während es andere Figuren stets nur in Beziehung zur Heldin betrachtet. Dementsprechend ist auch die Kamera ausschließlich da, wo Nico ist. Keine Zum Inhalt: Szene findet ohne sie statt. Der Fokus ist eng, die Umwelt oft unscharf (Glossar: Zum Inhalt: Tiefenschärfe/Schärfentiefe), so dass sich der Blick der Zuschauer/-innen auch auf rein visueller Ebene komplett auf die Heldin konzentriert.
Nähe und Authentizität
Insbesondere zu Beginn erzeugen dokumentarisch wirkende Szenen (Glossar: Zum Inhalt: Dokumentrafilm), die Nico bei ihrer Arbeit als Altenpflegerin zeigen, große Authentizität. Der sparsame Umgang mit Schnitten (Glossar: Zum Inhalt: Montage) und die Ungezwungenheit der Frauen und Männer – allesamt Laien –, die im Film Nicos Klient/-innen verkörpern, suggerieren eine Lebensnähe, die den Ereignissen der Geschichte Glaubwürdigkeit verleihen und darüber hinaus das Vertrauen des Filmpublikums in die Hauptfigur festigen. Auf dieser Grundlage wird schließlich mit Stilmitteln des fiktionalen Films die allgegenwärtige Bedrohung, die Nico nach dem Überfall begleitet, noch intensiver spürbar: Jetzt verschwimmt die Umwelt im Tunnelblick der geschockten jungen Frau, die bewegte Handkamera vermittelt Unsicherheit und Angst, fragmentierte Flashbacks (Glossar: Zum Inhalt: Rückblende/Vorausblende) veranschaulichen die sie heimsuchenden Erinnerungsfetzen.
Neben dem engen Fokus von Kamera und Buch ermöglicht vor allem das Zum Inhalt: Schauspiel von Hauptdarstellerin Sara Fazilat die Einfühlung in ihre Figur. Den Wechsel von der unbeschwerten zur traumatisierten und von Wut getriebenen Nico, vermittelt Fazilat mittels eines beeindruckend körperlichen Spiels durch eine zunehmend in sich gekehrte Haltung und eine starre wie auch ausweichende Mimik.
Fragen, die bleiben
Der Handlungsstrang um die Mazedonierin Ronny lässt jedoch Fragen offen. Sie findet die verletzte Nico am Tatort, läuft aber aus Angst vor der Polizei unerkannt davon. Zufällig begegnen sich die beiden Frauen später wieder. Einerseits repräsentiert Ronny zwei weitere Leerstellen der Filmlandschaft – queeres Begehren und das Leben ohne legalen Aufenthaltsstatus in Deutschland –, andererseits wirkt der Konflikt zwischen ihr und der Hauptfigur künstlich dramatisiert. Weshalb ist Nico wütend auf Ronny, als sie in der neuen Freundin ihre Ersthelferin erkennt? Wieso hat Ronny so lange gezögert, Nico die Wahrheit zu sagen?
Dies sind nur zwei Fragen, die das Ende des Films aufwirft. So sehr die Zuschauenden das Trauma der Hauptfigur auch miterleben können, so unklar bleibt ihre Rückkehr in ein neues Selbstbewusstsein. Ist es das Karate-Training, das Nico den Umgang mit ihrer Wut ermöglicht? Die Auseinandersetzung mit Ronny? Die vorübergehende Entfremdung von Rosa? Wie werden aus verstörenden Triggern wieder alltägliche Umweltgeräusche? Wie aus der versteinerten Mimik wieder ein Lächeln?
Vielleicht liegt die Qualität von Nico aber auch genau darin, dass die Filmemacherinnen diese Fragen ihrem Publikum zurückspielen, dass sie Nicos Entwicklung nicht detailliert analysieren, sondern lediglich beobachten. Letztlich bleiben sie damit ihrer Figur gegenüber respektvoll. Die erzählerische Haltung von Gehring, Fazilat und Fabritz steht nicht über Nico, bewertet und erklärt sie nicht, sondern geht mit ihr auf Augenhöhe und ermöglicht dem Publikum den unverstellten Blick auf die authentisch wirkende Titelfigur.
Weiterführende Links
- External Link Film-Website des Films
- External Link filmportal.de
- External Link FilmTipp von Vision Kino
- External Link bpb.de: Say My Name (Webvideo-Reihe)
- External Link APuZ: Zivilgesellschaft und gesellschaftlicher Zusammenhalt
- External Link bpb.de: "Alltagsrassismus"? Was ist denn das?
- External Link fluter.de: Interview zum Film "Ivie wie Ivie"
- External Link fluter.de: Ist der deutsche Film rassistisch?
- External Link fluter.de: Studie: Vielfalt im Film
- External Link fluter.de: Videointerview zu Aufklärung zu Rassismus
- External Link Vision Kino: FilmTipp ZOOM