Kategorie: Hintergrund
Fremdbilder – Selbstbilder
Identitätskonstruktionen von türkischen Migranten/innen im deutschen Spielfilm
Es dauerte bis in die 1990er-Jahre, dass nicht ausschließlich deutsche Regisseure/innen türkische Protagonisten/innen in ihren Spielfilmen zeigten.
Außenansichten
Die ersten in Deutschland produzierten Spielfilme mit türkischen Protagonisten/innen stammten bis in die 1990er-Jahre hinein fast ausschließlich von deutschen Filmemachern/innen. Daraus ergab sich eine Außensicht auf türkische Migranten/innen und eine Stereotypisierung, die sich bis in die Gegenwart hineinzieht. Im TV-Krimi erschienen türkische Charaktere lange Zeit als Ehrenmörder oder Kleinkriminelle, im Kino fast nur im sozial engagierten "Problemfilm": Hervorstechendes Merkmal war dort das Fremd- und Anderssein. Häufig erschienen Gastarbeiter/innen als Opfer kapitalistischer Verhältnisse. Dem blieb das Interesse am individuellen Charakter, an einer Biografie meist untergeordnet.
Eingesperrt in Deutschland
Als erster Spielfilm eines türkischstämmigen Regisseurs gilt "40 qm Deutschland" (Tevfik Başer, 1985) – dieser Titel ist fast zum Sinnbild für die Lebensumstände des "unintegrierten" Gastarbeiters geworden. Regisseur Başer wollte dem damaligen uninformierten, zum Teil sehr skeptischen deutschen Publikum Menschen aus einer fremden Kultur näher bringen, gleichwohl diese Kultur auch kritisch hinterfragen. Sein Film erzählt vom Arbeiter Dursun, der seine junge Frau Turna aus der Türkei nachholt und sie wie eine Gefangene hält, um sie vor der deutschen Gesellschaft zu "schützen". Erst als Dursun stirbt, kann Turna die Wohnung verlassen; ihr Schicksal bleibt ungewiss. Başers Zum Inhalt: KammerspielKammerspiel wurde mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet, weil er ein soziales Problem in starker Verdichtung auf den Punkt brachte. Gleichzeitig war der Film mitverantwortlich dafür, dass im deutschen Medienbetrieb der 1980er-Jahre kulturelle Grenzen zementiert, stereotype und klischeebesetzte Geschlechterzuschreibungen verstärkt wurden: der türkische Mann als integrationsresistenter Patriarch, die ihm untergeordnete Frau als zum Schweigen verdammtes Opfer.
Gefangen in der Familie
Dass es scheinbar nur in Deutschland Rettung gibt, legt Hark Bohm in seinem bewegenden Jugendfilm "Yasemin" (1988) nahe. Die in Deutschland aufgewachsene 17-jährige Schülerin verliebt sich in den Studenten Jan. Der traditionell eingestellte Vater plant daraufhin, Yasemin in die Türkei zu verschleppen. In einer dramatischen Schlusssequenz "entführt" Jan Yasemin aus dem familiären Umfeld: Auf dem Motorrad fahren sie der Zukunft entgegen. Die starken Bindungen innerhalb der türkischen Familie werden von Bohm mit großer Einfühlung dargestellt, innerhalb der türkischen Strukturen wird aber kein Lösungsweg aufgewiesen. Yasemin muss erst von einem deutschen "Ritter" in die Mehrheitskultur "hinübergerettet" werden.
Spiel mit Klischees
Erst in den 1990ern kommt es zu einem nuancierteren und (selbst)ironischeren Umgang mit kulturellen Grenzen, Klischees und filmischen Darstellungsformen: Doris Dörries "Happy Birthday, Türke!" (1991) ist eine komisch-melancholische Detektivgeschichte, die den Frankfurter Ermittler Kemal Kayankaya ins "türkische Milieu" führt. Die Hauptfigur Kayankaya ist ein in Deutschland aufgewachsener Türke, wird aber von den "Landsleuten" weder als solcher erkannt noch akzeptiert. So sagt ein kleines, türkischstämmiges Mädchen zu ihm: "Du siehst gar nicht aus wie ein richtiger Türke", und malt ihm als Erkennungsmerkmal einen Schnurrbart an. Zwischen Kayankaya und seiner Auftraggeberin Ilter, der Gattin des Mordopfers, entspinnt sich eine Liebesgeschichte, die Ilter von der traditionellen Rolle der trauernden Witwe wegführt und Kemal mit seinen türkischen Wurzeln konfrontiert.
Ein neues Selbstverständnis
Ende des Milleniums nimmt in Deutschland die Zahl, aber auch die inhaltliche und ästhetische Vielfalt türkischstämmiger Filme ständig zu. 1998 zeigen drei erfolgreiche Filme völlig unterschiedliche Ansätze: Yüksel Yavuz legt in "Aprilkinder" die Geschichte zweier Brüder als Sozialdrama an. Thomas Arslans "Dealer" bringt hingegen großes ästhetisches Interesse mit und Fatih Akin orientiert sich mit am Hollywood-Gangsterdrama. Über Brian de Palmas "Scarface" (USA 1983) und Martin Scorseses im italo-amerikanischem Einwanderermilieu spielenden "GoodFellas" (Goodfellas, USA 1990) findet er einen neuen Zugang zum Migrationsthema: Drei Freunde – der Serbe Bobby, der Grieche Costa und der Türke Gabriel – aus dem kleinkriminellen Milieu von St. Pauli gehen gemeinsam durch Dick und Dünn. Doch als Gabriel nach einem Gefängnisaufenthalt aussteigen möchte, Bobby aber einen Deal mit der albanischen Mafia eingeht, findet ihre Freundschaft ein unheilvolles Ende. Akins Spielfilmdebüt vermeidet Klischees nicht, sondern inszeniert sie mit cineastischer Kraft, spritzigen Dialogen und selbstbewusster großer Pose. In seinen weiteren Filmen spielt Akin mit unterschiedlichen Genres. Nach seiner italienischen Gastarbeitergeschichte (2002) wendet er sich 2003 mit seinem preisgekrönten wieder dem deutsch-türkischen Milieu zu. Zumindest in der Person Fatih Akin ist das Türkische ein Teil des deutschen Kulturbetriebs geworden.
Alte und neue Ansätze
Bei der Daueraktualität der Integrationsdebatte bleibt das Genre des Sozialdramas weiterhin virulent: Die deutsche Regisseurin Feo Aladag (verheiratet mit dem kurdischen Regisseur Züli Aladag) schildert in Zum Filmarchiv: "Die Fremde" (2010) eindrucksvoll die Umstände eines "Ehrenmordes": Als die junge Umay ihren Ehemann in Istanbul verlässt und zu ihrer Familie nach Deutschland zurückkehrt, wird sie von ihrem Vater verstoßen. Aladag inszeniert ein Räderwerk unheilvoller Faktoren: Abkapselung durch die Migrationssituation, das traditionelle Geschlechterverhältnis, ein archaischer Ehrbegriff und kollektive Zwänge führen schließlich zur schrecklichen Tat. Demgegenüber verkörpert Sinan Akkus' Episodenfilm (2008) einen unkonventionellen Ansatz. Akkus verknüpft über den Handlungsort eines Mietshochhauses die Nöte mehrerer Liebespaare: Dirks Eltern sind gegen die Verbindung mit Özlem, Tochter strengreligiöser Eltern. Der aufgeklärte alevitische Kadir sperrt seine Tochter Günay sogar ein, damit sie sich nicht mit "diesen Fundis" – den kurdisch-sunnitischen Eltern ihres Freundes Coskun – einlässt. Und Emrah liebt Tim, obwohl seine Sippe meint, Schwule hätten ein "krankes Organ" und eben jenes gäbe es überhaupt nur bei Deutschen. Herkunftsbedingte Probleme werden wohl aufgezeigt, aber nicht dramatisch zugespitzt, sondern in einer Pointe oder einem Kompromiss aufgelöst. In diesem humoristisch-humanistischen Ansatz hat Akkus' Film viel gemein mit Zum Filmarchiv: "Almanya – Willkommen in Deutschland", in dem die deutsch-türkische Regisseurin Yasemin Samdereli vom Ankommen einer türkischen Familie im Deutschland der 1960er-Jahre erzählt. Anders als viele Filmproduktionen – von "40 qm Deutschland" bis Zum Filmarchiv: "Die Fremde" – zeigen diese Komödien mit einem neuen Pluralismus, dass es den typischen "Türken" nicht gibt. Die Front verläuft hier nicht mehr nur zwischen Deutschen und Türken, auch zwischen den Generationen müssen Konflikte ausgehandelt werden.