Kategorie: Filmbesprechung
"Walchensee Forever"
Janna Ji Wonders ergründet in ihrem Dokumentarfilm die Geschichte ihrer Familie und der eigenen Herkunft. So zeigt sie Verbindungen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart auf.
Unterrichtsfächer
Thema
Am Anfang tritt ein blondes Mädchen ins Bild. Halb schelmisch, halb verlegen grinst es in die Kamera, rückt den Blumenkranz auf seinem Kopf zurecht. Wer es denn sei, will eine Frauenstimme wissen. "Eine Fee vom Walchensee". Dann spricht das Mädchen über seine größten Ängste und darüber, wie es sich den Tod vorstellt. "Mama, darf ich dir mal Fragen stellen?", bittet es schließlich. Die beiden tauschen die Rollen, die Zum Inhalt: Szene bricht ab. Mehr als 30 Jahre später sitzen sich Janna Ji Wonders, inzwischen ausgebildete Dokumentarfilmerin, und ihre Mutter Anna Werner erneut zum Interview gegenüber. Gerade richten sie noch das Bild ein. "Was meinst du?", fragt die Mutter. "Ich find's gut“, antwortet die Tochter – die eine vor, die andere hinter der Kamera. Warum die Grenze zwischen Zum Inhalt: dem On und dem Off in "Walchensee Forever" derart durchlässig ist? Die Regisseurin ist selbst ein Teil der Geschichte, die sie in ihrem Film erzählt: die Geschichte der Frauen in ihrer Familie.
Frauen aus vier Generationen
Diese setzt 1920 ein, als Wonders' Urgroßeltern an den bayerischen Walchensee (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set) ziehen, um dort ein Ausflugscafé zu eröffnen. Urgroßmutter Apa ist eine stolze Frau, die noch am Herd sorgfältig zurechtgemacht ist. Für ihre Tochter Norma dagegen ist der Familienbetrieb eine reine Pflichtaufgabe. Tüchtig fügt sie sich in die Rolle, die ihr bereits als Jugendliche auferlegt wird. Eine Wahl bleibt ihr nicht. Doch als ihr Mann, ein Kunststudent aus Norddeutschland, sie und die gemeinsamen Kinder verlässt, sichert das Café ihre Unabhängigkeit. Die beiden Töchter Anna und Frauke hingegen zieht es in die Welt. Als Musikerinnen, die traditionell bayerische Klänge mit freiem Ausdruck verbinden, reisen sie nach Mexiko und San Francisco, kommen dort mit der Hippie-Bewegung und später in München mit einer Kommune in Kontakt. Rainer Langhans, eine Ikone der deutschen 68er-Zeit, wird zum engen Weg- und Lebensgefährten der beiden Schwestern, die sich von ihm zum Meditieren, Fasten und zu Pilgerreisen nach Indien inspirieren lassen. Die jüngere Frauke verliert dabei zunehmend die Kontrolle. Sie erleidet eine Psychose und stirbt bei einem rätselhaften Autounfall. Vielleicht ist dieser der eigentliche Ausgangspunkt von Wonders' filmischer Spurensuche. Sicher ist er der Grund, warum sie im Kindesalter, verkleidet als Fee vom Walchensee, bereits vom Sterben spricht. Janna wird in den 1980er-Jahren in den USA geboren, wo ihre Mutter und ihr Vater eine Zeit lang zusammenleben. Doch Anna entscheidet sich, mit ihrer Tochter an den Walchensee zurückzugehen. Sie übernimmt das Café und lebt dort gemeinsam mit ihrer Mutter unter einem Dach, bis in die Gegenwart des Films hinein.
Gegenwart und Vergangenheit im Dialog
Die rund ein Jahrhundert umspannende Geschichte von "Walchensee Forever" ergründet Wonders vornehmlich im Gespräch mit ihrer Mutter, seltener auch mit der Großmutter oder Vertrauten der Familie. Eine besondere Intimität erreicht sie in den Interviews (Glossar: Zum Inhalt: Talking Heads), indem sie auf die Anwesenheit eines Filmteams verzichtet und sich alleine um Kamera und Ton kümmert. Daneben setzt sie zahlreiche Auszüge aus Tagebüchern, Briefen und autobiografischen Texten sowie einen regelrechten Schatz an privaten Film- und Fotoaufnahmen (Glossar: Zum Inhalt: Found Footage) ein. Bereits ab den 1920er-Jahren erweisen sich die Werners als eifrige Chronisten ihrer selbst: Frühe Schmalfilmaufnahmen bezeugen Apas imposante Gestalt und die junge Liebe zwischen Norma und ihrem Mann. Später dokumentiert Anna, die in Jugendjahren von ihrem Vater an die Fotografie herangeführt und ihr Talent schließlich zum Beruf machen wird, ihren Lebensweg auf eindrückliche Weise. In der Zum Inhalt: Montage entsteht ein Dialog zwischen Worten und Bildern aus Vergangenheit und Gegenwart. Immer wieder stellen Mutter und Tochter Fragen an das Archivmaterial, das gleichzeitig den Familienmitgliedern quer durch die Jahrzehnte zu lebhafter Gestalt verhilft. Dabei wechselt der Film sprunghaft zwischen den Zeitebenen und lässt so Verbindungslinien sichtbar werden und die Vergangenheit als Teil der Gegenwart erscheinen – auf das Bild einer robusten Küchenchefin im Arbeitskittel folgen Aufnahmen der gleichen, inzwischen über einhundert Jahre alten Frau, die gekrümmt in ihrem Sessel am heimischen Fenster sitzt.
Ewig ruht der Walchensee
Männer spielen in "Walchensee Forever" nur Nebenrollen. Da ist Janna Ji Wonders' Großvater, ein strenger Mensch, der verwundet aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkehrt und für seine Tochter zeitlebens eine Sehnsuchtsfigur bleibt. Und da ist ihr eigener Vater, der sich lieber in die Abgeschiedenheit der Meditation zurückzieht als bei seiner Familie zu schlafen. Den patriarchalen Gegebenheiten ihrer Zeit trotzen die Protagonistinnen auf ihre je eigene Weise. So werden Frauen aus vier Generationen mit ihren ebenso individuellen wie von der Zeitgeschichte geprägten Lebensläufen sichtbar. Während Norma wenig anderes übrig bleibt, als ihr ganzes Leben im Haus ihrer Kindheit zu verbringen, sucht Anna andernorts nach der Freiheit und sich selbst – und kehrt doch zurück. Inmitten vieler Unterschiede lässt sich im titelgebenden Walchensee ein verbindendes Element zwischen den Frauen ausmachen. Für sie alle wird er zum Fixpunkt, dem sie sich zugehörig, aber auch verpflichtet fühlen, der ihnen Zuflucht bietet und sie gleichzeitig nicht loslässt. Hier ist es ihnen nicht nur möglich, sich der Welt der Männer zu entziehen und zu widersetzen. Was dieser Ort für die Frauen bedeutet, macht der Film nicht zuletzt spürbar – in der Vertrautheit und Zärtlichkeit, mit der die Filmemacherin, ihre Mutter und Großmutter einander begegnen. Auch die Kamera nimmt den See immer wieder in den Blick. Mal spiegelt sich der Himmel in seinem Wasser, mal peitscht der Wind es zu Wellen auf. Umringt von Bergen, bekommt seine stete Präsenz etwas geradezu Mystisches. Was Heimat eigentlich ausmacht, möchte die Regisseurin am Ende von ihrer Mutter wissen. In der Zwischenzeit ist eine alte Frau verstorben und ein junges Mädchen geboren.