Kategorie: Filmbesprechung
"Endlich Tacheles"
Der Enkel einer Shoah-Überlebenden versucht, die traumatische Familiengeschichte zu bewältigen, indem er ein Computerspiel über den Holocaust entwickelt. Der Dokumentarfilm begleitet ihn dabei.
Unterrichtsfächer
Thema
Yaar, in Israel geboren, lebt als säkularer Jude in Berlin und ist Enkel einer Shoah-Überlebenden. Der Holocaust ist Teil seiner Familiengeschichte und hat tiefe Wunden hinterlassen. Wie einen "schwarzen Mantel" empfindet der 21-Jährige diese Vergangenheit – einen Mantel, den er ablegen will, damit er im Hier und Jetzt leben kann. Doch das ist auch in der dritten Generation nicht einfach, vor allem nicht in Deutschland, wo Judentum und Shoah noch immer in einem Atemzug genannt werden.
Ein Game als Mittel zur Vergangenheitsbewältigung
Als angehender Gamedesigner wählt Yaar einen kreativen Weg der Auseinandersetzung. Zusammen mit seinem Kommilitonen Marcel will er das autobiografisch geprägte Computerspiel "Als Gott schlief" entwickeln, das in den 1940ern angesiedelt ist und von einem jüdischen Mädchen in Polen und einem deutschen SS-Offizier handelt. Die Figuren sind inspiriert von Yaars Großmutter Rina sowie einem Vorfahren Marcels. Die Spieler/-innen, so die Idee, schlüpfen in diese Rollen. Statt, wie üblich in Action-Adventure-Spielen, einer von den Machern vorgegebenen Storyline zu folgen, entscheiden sie selbst, wie sie sich verhalten wollen. "Du musst nicht nur Opfer sein", erklärt Yaar seiner Mutter. "Du kannst dich auch wehren gegen die Nazis, und die Nazis müssen nicht böse sein." Yaar und Marcel wollen so gängige Rollenzuschreibungen von Opfern und Täter/-innen aufbrechen, die ihrer Meinung nach einer Vergangenheitsbewältigung im Wege stehen. Yaars Mutter versteht seinen Wunsch nach einem Befreiungsschlag. Der Vater hadert mit dem Vorhaben: Er fürchtet eine Verfälschung der historischen Wahrheit und der Familiengeschichte.
Endlich Tacheles from Real Fiction on Vimeo.
Das Filmteam als unsichtbarer Begleiter
In ihrem Zum Inhalt: Dokumentarfilm erzählen die Regisseurinnen Jana Matthes und Andrea Schramm von Yaar und seinem Computerspiel in Form einer Entwicklungsreise. Sie sind mit der Kamera nah dabei, wenn er sich mit dem Vater streitet, seinem Therapeuten Ängsten anvertraut oder mit Marcel und seiner Freundin Sarah in Krakau, dem Geburtsort seiner Großmutter, Inspirationen für das Spiel sammelt. Als stille und unsichtbare Beobachter/-innen halten die Filmemacherinnen in "Endlich Tacheles" wiederholt sehr intime Momente fest und lassen auch widersprüchliche Statements der jungen Protagonisten stehen. Zugleich führt diese Herangehensweise dazu, dass einordnende Kommentare (Glossar: Zum Inhalt: Voiceover) – etwa zu den Zum Inhalt: Drehorten in Krakau – fehlen. Nur einmal bricht diese künstliche Barriere: Als Yaar, Marcel und Sarah überlegen, ob man die Spielfigur des SS-Manns nicht positiver als einen von innerlichen Zweifeln zerrissenen Soldaten zeichnen sollte, intervenieren die Regisseurinnen. Sie fragen die drei jungen Menschen, ob sie nicht aushalten könnten, dass die Deutschen nun einmal Täter/-innen und nicht Opfer seien. Vor allem Marcel und Sarah lehnen das Konzept der besonderen deutschen Verantwortung ab. Es wäre eine allgemeine Menschenpflicht und nicht speziell eine deutsche, Genozide zu verhindern.
Dialog zwischen den Generationen
Auf der anderen Seite steht Yaar, der das jüdische Opfernarrativ ablehnt. Er konfrontiert nicht nur sich mit der Vergangenheit, sondern auch seine Großmutter, die er in Jerusalem besucht und die alles vergessen möchte, und vor allem seinen Vater, der die NS-Zeit zwar nicht miterlebt hat, den das vererbte Trauma aber bis in die Gegenwart verfolgt. Der zweite Teil der Dokumentation konzentriert sich auf Yaar und seinen Vater, der nach Krakau nachreist. Gemeinsam besuchen sie das ehemalige Konzentrationslager Plaszow und lüften das Geheimnis um den Tod von Yaars Großonkel Roman, über den die Großmutter nie reden wollte. In einer Kirche treffen sie die Nachkommen einer Frau, die die jüdischen Geschwister einst versteckt hielt, und erfahren, unter welchen Umständen Roman von der Gestapo entdeckt und ermordet wurde. Der Vater bricht in Tränen aus. Erst jetzt versteht Yaar die Ohnmacht und den Schmerz des Vaters und der Familienangehörigen. Es ist der emotionalste Moment dieser intimen Dokumentation und eine Schlüsselszene des Films, begreift Yaar doch, was die Vergangenheit mit ihm zu tun hat.
Wiederholt werden die Nahaufnahmen (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen) der Protagonist/-innen durch Stadtansichten und Landschaftsaufnahmen unterbrochen. Die stillen Bilder geben den Zuschauer/-innen die Möglichkeit, über das Gesagte nachzudenken. Gleichzeitig wird der Denk- und Verarbeitungsprozess von Yaar deutlich gemacht. Wirkt er anfangs noch rebellisch und aufbegehrend, so lernt er nach und nach die Perspektive von Vater und Großmutter besser zu verstehen. Die Umsetzung des Spiels, das im Film nur in Entwürfen gezeigt wird, verliert zusehends an Bedeutung. Stattdessen tritt seine eigentliche Funktion zutage: Es hat den Weg für den Dialog zwischen Vater und Sohn eröffnet, der von Respekt und Einfühlvermögen geprägt ist. Yaar hat sich im Zuge des Spielprojektes intensiv mit der eigenen Familiengeschichte auseinandersetzt – und hat sich letztlich selbst davon überzeugt, dass diese nicht auf Kosten der Opfer verfälscht werden sollte.
Neue Formen des Erinnerns
"Endlich Tacheles" erzählt nicht nur eine spezifische Familiengeschichte. Der Film zeigt konkret auch die Auseinandersetzung von Yaars Generation mit einer neuen Form der Erinnerung – und ist dabei nicht allein. Medial vielfach rezipiert wurde das Instagram-Projekt "Eva Stories" (2019), das auf den Tagebüchern der in Auschwitz ermordeten Jüdin Eva Heymann basiert. Auch eine Reihe von Dokumentarfilmen widmet sich dem Sujet. In Zum Filmarchiv: "Nachlass" (Christoph Hübner, Gabriele Voss, DE 2017) konfrontieren etwa sieben Kinder und Enkel von Opfern und Tätern des Holocaust ihre Angehörigen mit der eigenen Familiengeschichte. Und Filmemacher Arnon Goldfinger stößt in seinem Film "Die Wohnung " (IL, DE 2011) auf Zeugnisse einer Freundschaft zwischen seinen jüdischen Großeltern und überzeugten Nationalsozialist/-innen.
Dass diese Filme gerade jetzt entstehen, ist kein Zufall: Die letzten Shoah-Überlebenden sind inzwischen hochbetagt, sodass vielfach Schweigen gebrochen wird und alte Geheimnisse zutage treten. Zugleich stellen sich Historiker/-innen, Pädagogen/-innen und auch Filmschaffende die Frage, wie das Erinnern ohne die Zeitzeuginnen und -zeugen in Zukunft funktionieren kann. Nicht zuletzt wird aktuell die Frage verhandelt, welche Rolle die Shoah in der Geschichtsschreibung Deutschlands einnehmen soll (Stichwort: "Historikerstreit 2.0"). Filme wie "Endlich Tacheles" zeigen, dass die Auseinandersetzung mit der Shoah noch immer nicht abgeschlossen ist. Und sie tragen dazu bei, dass die Berichte der Zeitzeug/-innen auch nachfolgenden Generationen erhalten bleiben.
Weiterführende Links
- External Link Offizielle Film-Website
- External Link Film-Website des Verleihs
- External Link filmportal.de
- External Link bpb.de: Dossier Geschichte und Erinnerung
- External Link bpb.de: Widerstandsgeschichte auf Instagram: Was leistet das Projekt @ichbinsophiescholl?
- External Link Instagram: Evas Stories
- External Link bpb.de: Wem gehört die Vergangenheit? Generationenbrüche im deutschen Erinnern