Noch etwas unbeholfen scharren die kleinen Schweinenasen durch das Stroh. Der wuchtige Körper des Muttertiers hebt und senkt sich schwer. Kaum hat ein weiteres Ferkel das Licht der Welt erblickt, bahnt es sich, klebrig und glänzend, seinen Weg an die Zitze. Ein Quieken und Röcheln, Stolpern und Tapsen. Knapp zwanzig Minuten dauert die erste, eindrückliche Begegnung mit der titelgebenden Protagonistin Gunda und ihrem Nachwuchs. Dann weitet sich der Blick. Außerhalb des Stalls gehen Kühe und Hühner ihren Gewohnheiten nach. Bald erkundet auch die Schweinefamilie den beachtlich großen Freiraum rund um den Hof. Obwohl "Gunda" an unterschiedlichen Schauplätzen (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set) in drei Ländern gedreht wurde, entsteht durch die Zum Inhalt: Montage der Eindruck eines Mikrokosmos. Die Tiere scheinen in direkter Nachbarschaft zueinander zu leben.

Gunda, Szene (© Filmwelt Verleihagentur)

Die Wirklichkeit der Tiere

Menschen zeigt der Zum Inhalt: Dokumentarfilm nicht. Ihre Anwesenheit ist lediglich in einigen wenigen Spuren der Tierhaltung sichtbar: in Zäunen, Käfigen, Ställen. Das Interesse des Regisseurs Victor Kossakovsky gilt allein der Wirklichkeit der Tiere. Um dieser so nahe wie möglich zu kommen, bediente sich das Filmteam einiger Tricks. So ließ Kossakovsky etwa den Stall der Schweine mit herausnehmbaren Brettern nachbauen. Im Inneren des Stalls wurden Schienen für die Kamera verlegt. Das Filmteam blieb während der Aufnahmen draußen und steuerte die Kamera aus der Ferne. So konnten die intimen Momente rund um die Geburt der Ferkel gefilmt werden, ohne dass die Dreharbeiten Gunda zu sehr beeinträchtigten.

Das Kino als Erfahrungsraum

Im Zentrum des Films steht der Alltag der Tiere. So banal der zunächst vielleicht erscheinen mag – "Gunda" lehrt uns: Je genauer wir hinsehen und -hören, umso mehr können wir entdecken. Das Kino wird so zum Erfahrungsraum, der das Eintauchen in eine andere Wahrnehmungswelt ermöglicht. In sanft gleitender Bewegung umkreist die Kamera (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen) die Tiere und befindet sich dabei meist auf deren Augenhöhe (Glossar: Zum Inhalt: Kameraperspektiven). Kleinste Details lässt ihr geduldiger Blick sichtbar werden: hier der nach Fliegen peitschende Schwanz einer Kuh, dort der forschende Fuß eines Huhns im Gestrüpp. Sparsam eingesetzte Drohnenaufnahmen in Bodennähe vermitteln zudem die Perspektive von Schwein und Huhn. Die extreme Nähe zu den Körpern und Bewegungen der Tiere verleiht den Bildern eine starke sensorische Qualität. Dazu trägt auch die Zum Inhalt: Tongestaltung bei. Einzelne Geräusche werden selektiv verstärkt. Dadurch sind nicht nur die Laute der tierischen Protagonistinnen und Protagonisten besonders präsent. Jede ihrer Berührungen des Bodens, des Strohs oder der Gräser ist hörbar. Auch durch die Verdichtung der Umgebungsgeräusche lenkt der Film die Aufmerksamkeit auf Aspekte des Lebens, die einem sonst leicht entgehen. In unzähligen klanglichen Nuancen surren die Insekten, zwitschern und krähen die Vögel, rauschen die Blätter.

Gunda, Szene (© Filmwelt Verleihagentur)

Wovon träumt Gunda?

Kossakovsky verzichtet auf eine augenfällige Interpretation der Bilder: kein Zum Inhalt: Voiceover-Kommentar, der das Verhalten der Tiere erklärt, keine Zum Inhalt: Musik, keine aufgedrückte Story. Der Purismus der filmischen Ästhetik lässt Raum für eigene Gedanken und Überlegungen. Was nehmen die Tiere wahr? Was empfinden sie? Wovon träumen sie? Und doch spricht aus der starken künstlerischen Gestaltung des dokumentarischen Materials eine Position, die dem Publikum Zugänge nahelegt. Ein langer, forschender Blick ins Angesicht einer Kuh suggeriert, dass sich hinter den tiefen Augen eine Seele verbirgt. Wenn das Huhn nach ausgedehnter Wanderschaft in freier Natur auf einen Zaun stößt, durch den es sich mühevoll hindurchzuwinden sucht, werden die Grenzen seiner Welt spürbar. Umgekehrt stilisiert Kossakovsky den Moment, in dem die Rinderherde ihren Stall verlässt, mittels Zum Inhalt: Zeitlupe zu einem prachtvollen Galopp in die Freiheit. So vermittelt die poetische Bildsprache von "Gunda" – mit ihrem kontrastreichen Schwarz-Weiß (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung, dem künstlerisch eingefangenen Zum Inhalt: Licht sowie der detailreichen Geräuschkulisse – nicht nur eine große Faszination für die Natur. Sie bringt auch eine gewisse Verklärung des Tierlebens auf dem Hof mit sich.

Filmwelt Verleihagentur / Sant & Usant/ V. Kossakovsky/ Egil H. Larsen

Ein fragender Blick in die Kamera

Am deutlichsten tritt der Standpunkt des Regisseurs in der filmischen Gestaltung (Glossar: Zum Inhalt: Mise-en-scène/Inszenierung am Schluss des Films zutage. Maschinen, die nur ausschnittweise und damit fast schon abstrakt ins Bild gesetzt sind, brechen in die Idylle ein. Ein Traktor verlädt die jungen Schweine. Um zu verstehen, wohin ihr Weg führt, bedarf es keiner Erläuterung. Gunda bleibt allein zurück. Ihre Unruhe und Verstörung fängt der Film in einer ausgedehnten Zum Inhalt: Plansequenz ein. Nach all der Zeit, die wir mit den Schweinen verbracht haben, nach all den Situationen, in denen wir sie als interagierende, liebkosende Wesen erlebt haben, erscheint Gundas Schmerz in diesem Moment offensichtlich. Aus ihrem Grunzen spricht für uns Verzweiflung, ihr Blick in die Kamera (Glossar: Zum Inhalt: Vierte Wand) scheint Fragen an die Menschen zu richten – an das Filmteam vor Ort wie an die Zuschauenden im Kinosaal. So übermittelt Kossakovsky eine tierrechtliche Botschaft, ganz ohne Fakten und Erklärungen, ganz ohne schockierende Bilder aus Massentierhaltung und Schlachthaus. Sein Film fordert zu einem Perspektivwechsel auf, zur Anerkennung von Tieren als fühlende Geschöpfe – zum respektvollen Umgang mit allen Lebewesen.

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