Ken Loach glaubte seinerzeit, der 2016 auf dem Filmfestival in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnete Film Zum Filmarchiv: "Ich, Daniel Blake" ("I, Daniel Blake" , GB/FR/BE 2016) könnte sein Letzter gewesen sein. Zeitlebens hat sich der 1936 geborene Regisseur in seinen Werken für die britische Arbeiterklasse engagiert und sich auch über die Grenzen seines Heimatlandes hinaus für die Schicksale einfacher Leute interessiert. Nun hat Loach am gleichen Ort wie in seinem vorangegangenen Film mit seinem langjährigen Zum Inhalt: Drehbuchautor Paul Laverty doch ein weiteres Sozialdrama gedreht – einen Film über die Bedingungen der globalisierten Arbeitswelt nach der Finanzkrise von 2008 anhand der Geschichte eines Kurierfahrers und seiner Familie.

Jetzt oder nie!

Noch bevor der zweifache Familienvater Ricky aus Newcastle (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set) das erste Mal im Bild auftaucht, ist seine Stimme aus dem Zum Inhalt: Off zu hören: Er erzählt dem Manager eines Paketdepots, warum er sich dort als selbstständiger Kurierfahrer bewirbt. Die Ersparnisse für den Traum, einmal in eigenen vier Wänden zu wohnen, gingen während der Finanzkrise durch den Zusammenbruch der Hausbank verloren. Seitdem hat sich Ricky mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, während seine Frau Abbie als schlecht bezahlte mobile Altenpflegerin arbeitet. Damit es die beiden Kinder Seb und Liza Jane einmal besser haben, setzt Ricky nun alles auf eine Karte. Als unternehmerisch tätiger Paketzusteller glaubt er an eine bessere Zukunft – auch wenn seine Frau das von ihr beruflich dringend benötigte Familienauto verkaufen muss, damit er sich die Anzahlung eines eigenen Sprinters für die Auslieferungen leisten kann. Was vielversprechend beginnt, erweist sich in der Praxis als nahezu unmögliches Unterfangen, das Ricky und seine Familie zu zerstören droht.

Sorry We Missed You, Szene (© NFP)

Leistungsdruck und Ausbeutung

Scheinselbstständigkeit, die den Auftragnehmer/-innen kaum Rechte gewährt, aber alle Pflichten auferlegt, bezeichnete Loach in einem Interview als "Ausbeutung von Arbeitskraft mit modernster Technologie und Vernetzung" und als "moderne Sklaverei". Und genau das bekommt Ricky im Film am eigenen Leib zu spüren: Permanenter Termindruck, unwillige oder nicht angetroffene Kunden und Kundinnen, Verkehrsstaus, fehlende Parkmöglichkeiten und ständige Überstunden, um das geforderte Tagespensum leisten zu können, sind nur die Spitze des Eisbergs. Anhand des mitgeführten Trackers mit GPS-Ortung, den Ricky bei Verlust bezahlen muss, wird sein Tagesablauf auf Schritt und Tritt überwacht. Auch bei Krankheit oder wichtigen Familienterminen gibt es kein Pardon: Ricky muss selbst für Ersatz sorgen oder für den entstandenen "Schaden" aufkommen. Dabei sieht sich der Manager des Depots nicht als Unmensch: Schließlich habe er klare Absprachen getroffen und stehe selbst unter Konkurrenzdruck, um einer der besten Anbieter in diesem Dienstleistungssektor zu bleiben. Nicht viel besser als Ricky ergeht es Abbie in ihrer Arbeit. Für ihre Patientenbesuche nunmehr auf den Bus angewiesen, ist sie täglich zwölf Stunden unterwegs, der Pflegeaufwand wird nur pauschal vergütet, allfällige und dringend erforderliche Zusatzleistungen gehen zu ihren Kosten.

Die Erosion einer Familie

Kein Wunder also, dass sich die Familie kaum noch sieht. Die Spannungen wachsen und jeder neue Konflikt droht das Fass zum Überlaufen zu bringen. Damit wenigstens die zehnjährige Liza Jane ihren Vater auch einmal tagsüber sieht, nimmt Ricky sie kurzerhand auf eine Tour mit. Als sich ein Kunde beim Manager darüber beschwert, wird Ricky auch das verboten. Schwieriger gestaltet sich die Beziehung zum 15-jährigen Seb, der sich immer mehr abkapselt und schließlich offen gegen den Vater rebelliert. Als Graffiti-Künstler will er seinen eigenen Weg finden, was der Film im Nebenstrang als Zum Inhalt: Coming-of-Age-Drama erzählt. Seb führt Ricky klar vor Augen, dass er sich zwischen seiner Familie und dem für die Familie überlebensnotwendigen Job entscheiden müsse. Ein Dilemma, das in Ricky selbstzerstörerische Wut auslöst.

Sorry We Missed You, Szenen (© NFP)

Eine Tragödie ohne Ende?

In Ken Loachs in keiner Weise überzogen wirkendem Sozialdrama kommt es weder zu einer Läuterung, geschweige denn zu einem Happy End: Vielmehr eskaliert das Geschehen langsam bis zum abrupten und deshalb besonders aufwühlenden Schluss. "Sorry We Missed You" besticht darüber hinaus gleichermaßen durch seinen empathischen Blick und große Authentizität. Chronologisch gedreht, wussten die Darsteller und Darstellerinnen nicht genau, wie ihre Geschichten ausgehen würden. Sie mussten sich daher auf jede Zum Inhalt: Szene neu einstellen. Das verleiht dem Film einen fast dokumentarischen Charakter, der von der Kameraführung noch verstärkt wird. Sie ist oft ganz nah bei den Figuren (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen), weiß aber zugleich, die Distanz zu ihnen zu wahren. Statt sie in der Untersicht (Glossar: Zum Inhalt: Kameraperspektiven) als "Helden und Heldinnen" zu präsentieren, sind sie meistens über Augenhöhe hinaus in geringer Obersicht gefilmt, was ihre Opferrolle beziehungsweise ihre Zwangslage unterstreicht. Das gesamte Setting ist dem filmischen Realismus verpflichtet: So waren einige Nebendarsteller als Kurierfahrer tätig und ein Depot-Manager stand beratend zur Seite. Ohne Melodramatik, aber mit viel Mitgefühl erzählt Loach eine universelle Geschichte über Leistungsdruck und Ausbeutung, Pflegenotstand und Nächstenliebe, Menschlichkeit und Menschenwürde.

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