Zu Beginn des Films ist die Leinwand weiß. Es ist das Weiß eines noch unbeschriebenen Blatts auf einer Staffelei. "Porträt einer jungen Frau in Flammen" nimmt seinen Anfang in einer Unterrichtssituation zu Ende des 18. Jahrhunderts. Die Künstlerin Marianne lehrt junge Frauen die Kunst des Malens, sie selbst sitzt Modell. Geradezu beispielhaft führt die Filmemacherin Céline Sciamma in der Zum Inhalt: Exposition die Motive und Themen ein, die in der folgenden Zum Inhalt: Rückblende durchgespielt werden: das Verhältnis von Malerin und Modell, das Schauen und Betrachtet-Werden, den weiblichen Blick als Korrektiv des objektifizierenden männlichen Blicks. Vor diesem Hintergrund lässt sich die weiße Leinwand auch als eine symbolische leere Bühne deuten, die von den Frauen im Film bespielt wird.

Eine unmögliche Liebe in der Ständegesellschaft

Der Auftrag einer Herzogin führt die Porträtmalerin Marianne auf eine entlegene Insel in der Bretagne (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set). Die Umstände sind ungewöhnlich, wenn nicht ein wenig dramatisch. Marianne soll Héloïse, die Tochter der Herzogin, malen. Nachdem Héloïse' ältere Schwester von einer Klippe stürzte – mutmaßlich ein Suizid –, kommt ihr die Aufgabe zu, die Familie mit einer Heirat sozial abzusichern. Das Porträt ist als Geschenk an den zukünftigen Ehemann in Mailand gedacht, allerdings weigert sich Héloïse standhaft, Modell zu sitzen. Unter dem Vorwand, ihr Gesellschaft zu leisten, soll Marianne heimlich ihr Gesicht studieren und das Gemälde aus dem Gedächtnis erarbeiten.

Wenn Sie diesen Drittanbieter-Inhalt von www.youtube-nocookie.com aktivieren, ermöglichen Sie dem betreffenden Anbieter, Ihre Nutzungsdaten zu erheben. Weitere Informationen zur Nutzung von Drittanbieter-Inhalten erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Externer Link: Datenschutzerklärung anzeigen

Auf den gemeinsamen Spaziergängen an der Küste wird Héloïse zum Objekt von Mariannes verstohlenen Blicken, deren Bewegungen, Standpunkte und Perspektiven von Claire Mathons Kamera organisch nachempfunden werden – etwa wenn sie Details (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen) wie Hände oder das Ohr taxiert. Indem Héloïse die Blicke schließlich erwidert, setzt sie jedoch ein unvorhergesehenes Begehren in Gang, das sich bald – wenn auch für begrenzte Zeit – frei und leidenschaftlich entfalten wird. Doch vorerst treibt der Film die Schauanordnung noch einen Schritt weiter, indem er Marianne ein zweites Porträt anfertigen lässt – dieses Mal mit der aktiven Beteiligung von Héloïse, die ihr nun bereitwillig Modell sitzt.

Der Film gibt den anonymen Malerinnen der Vergangenheit ein Gesicht

Sciamma dekonstruiert das konventionelle Bild von Malerin und Muse, indem sie das Verhältnis der beiden Frauen als eine kreative Beziehung in Szene setzt. Während sich Marianne durch die Begegnung mit Héloïse als Künstlerin erst richtig findet, gewinnt Héloïse zunehmend Mitbestimmung über ihr eigenes Abbild. Die Zum Inhalt: Inszenierung unterstreicht diesen Selbstfindungsprozess mit dem Einsatz von natürlichem Licht (Glossar: Zum Inhalt: Licht und Lichtgestaltung). Auf die emotionalisierenden Effekte von Zum Inhalt: Filmmusik wird verzichtet. Umso intensiver ist die Wirkung diegetischer Musik: wenn etwa eine Gruppe von Frauen an einem Lagerfeuer plötzlich im Chor zu singen beginnt und sich der Gesang zu einer Hymne weiblicher Gemeinschaft steigert.

Porträt einer jungen Frau in Flammen, Szene (© Alamode Film)

Die Möglichkeiten weiblicher Handlungsmacht innerhalb des herrschenden Geschlechtersystems werden von Sciamma auf vielfältige Weise erkundet. Denn auch wenn Männer in dem Film fast gänzlich abwesend sind: Die patriarchale Ordnung steht unverrückbar im Raum. Im Gegensatz zu Héloïse kann sich die finanziell unabhängige Marianne jedoch gegen die Ehe entscheiden – auch wenn sie ihre Arbeiten mit dem Namen des Vaters signiert, um ihrem künstlerischen Werk zu öffentlicher Wahrnehmung zu verhelfen. Nicht zuletzt gibt Sciamma den zur Anonymität verdammten weiblichen Malerinnen der Vergangenheit mit Marianne ein Gesicht.

Weibliche Handlungsmacht in einer patriarchalen Ordnung

"Porträt einer jungen Frau in Flammen" erzählt auch von Freundschaft und weiblicher Solidarität. Mit Héloïses Mutter und der Magd Sophie ordnen sich um die zentralen Protagonistinnen zwei weitere Frauenfiguren an. In Abwesenheit der Herzogin lockern sich Regeln und Etikette, die Körper der jungen Frauen lösen sich aus ihrer antrainierten Zurückhaltung und finden (auch sexuell) zu ihrem eigenen Ausdruck. Sogar die Klassenschranken werden temporär überwunden, wenn Héloïse und Marianne bei Sophies Schwangerschaftsabbruch als schwesterliche Unterstützerinnen agieren. Später initiiert Héloïse sogar ein Re-enactment der Abtreibung und weist Marianne an, die Szene künstlerisch zu dokumentieren – "Jetzt wird gemalt!".

Sciamma kann ihre Figuren zwar nicht aus ihrer sozialen Umklammerung erlösen, aber sie schenkt ihnen die Freiheit des Blicks und des Ausdrucks. Und wie eine Zum Inhalt: Szene gegen Ende des Films zeigt, vermag Héloïse selbst aus dem Gefängnis der Ehe heraus Widerstandsgesten auszusenden: Als viele Jahre später erneut ein Porträt von ihr angefertigt wird, lässt sie in dem Buch, das sie in der Hand hält, eben jene Seite hervorblitzen, auf der Marianne ihr einst ihr Selbstporträt hinterlassen hat. Die Zahl 28 wird zu einer komplizenhaften Geste, mehr noch: einem feministischen Geheimcode.

Der Text ist lizenziert nach der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 Germany License.

Unterrichtsmaterial

Mehr zum Thema