Kategorie: Filmbesprechung
"Das brandneue Testament"
Le tout nouveau testament
Gott lebt mit Frau und Tochter in Brüssel und schikaniert seine Geschöpfe mit unsinnigen Regeln. Eines Tages hat die zehnjährige Éa genug von den Machenschaften ihres Vaters und reißt von Zuhause aus. Zusammen mit dem Obdachlosen Victor möchte Éa eine neue Apostelgeschichte schreiben.
Unterrichtsfächer
Thema
Man muss sich diesen Gott als frustrierten Typen vorstellen. Er lebt in einer spießigen Dreizimmerwohnung mit seiner stillen, etwas einfältigen Frau und ihrer rebellierenden zehnjährigen Tochter Éa, schlurft im Bademantel schlechtgelaunt durch die Räume und erschafft die Welt eher aus Langeweile. "Das brandneue Testament" beginnt chronologisch mit der Genesis, aber aus ungeklärten Gründen, vermutlich einem Systemfehler (Gott arbeitet an einem Computer älterer Bauart), sieht das Paradies wie Brüssel aus. Über dieser Stadt thront Gott in einem Hochhauskomplex, genehmigt sich gelegentlich ein Bier und verbringt den Arbeitstag damit, seine Geschöpfe zu quälen.
Apostelgeschichte Redux
Der belgische Regisseur Jaco Van Dormael hat mit "Das brandneue Testament" buchstäblich einen Film über Gott und die Welt gemacht. Letztere gerät ziemlich in Unordnung, als Éa die Machenschaften des despotischen Vaters aufdeckt und sich zur Flucht entschließt. Sie ist nicht die Erste: Schon ihr Bruder JC hat vor langer Zeit versucht, sich gegen das Werk des Vaters aufzulehnen und ging dafür unter die Menschen. Das lief bekanntermaßen gründlich schief. Jetzt steht er als Porzellanfigur auf dem Wohnzimmerschrank, wird von der Mutter regelmäßig abgestaubt und gibt Éa den Rat, abzuhauen und sich ein paar zusätzliche Apostel zu suchen. Die Mutter zum Beispiel schwört auf die Zahl 18. Also zieht sie aus dem Karteikasten des Vaters die Akten von sechs Personen und veröffentlicht aus Rache schnell noch die allergeheimste Datei auf seinem Computer: Zeitgleich erhalten alle Menschen eine SMS mit ihrem Todesdatum.
Leben mit falschen Selbstbildern
Der "Deathleak" hat gravierende Folgen. Die plötzliche Kenntnis über die restliche Lebenszeit löst einen medialen und massenpsychologischen Ausnahmezustand aus. Die neue Freiheit – denn darum geht es letztlich: die Befreiung von der unbestimmten Angst vor dem Tod – stellt mit aller Macht die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens. Auch die sechs neuen Apostel, die Éa per Zufallsprinzip ausgewählt hat, lebten bisher unfrei. Sie alle steckten auf ihre Weise in falschen Mustern und Selbstbildern fest. Wie die schöne Aurélie mit der Armprothese, die überzeugt war, wegen ihres Handicaps nicht begehrenswert zu sein. Oder François, der glaubte, nur das Morden könne ihn glücklich machen. Éas Eingreifen verändert die Leben der Menschen: Der graue Angestellte Jean-Claude wirft nach der Todesnachricht Aktenkoffer und Krawatte in den nächsten Mülleimer und folgt einem Vogelschwarm zum Polarkreis. Und der kleine Willy gesteht sich im Angesicht seines nahen Todes (er hat von allen Aposteln die kürzeste Restlebenszeit, nur 52 Tage) endlich ein, lieber ein Mädchen sein zu wollen.
Der innere Klang der Menschen
Ein wichtiges erzählerisches Element in "Das brandneue Testament" ist Zum Inhalt: Musik, die Éa in ihren Aposteln als deren inneren Klang vernimmt. Jede/r hat sein/ihr eigenes musikalisches Thema, meist seelenvolle Hochkulturstücke von Händel, Purcell, Rameau und Schubert, aber auch das Chanson La mer von Charles Trenet oder im Fall von Catherine Deneuves Martine scheppernde Zirkusmusik. Sie ist die ergreifendste Apostelfigur: Martine hat noch fünf Jahre zu leben, ihr Mann hingegen 39. "Er schien darüber erleichtert", erzählt sie traurig. In einer selbstreflexiven Volte spielt Deneuve das gnadenlos gealterte Produkt einer Barbiewelt, die zum tyrannischen Konsumparadies geworden ist. Ihre Befreiung wird konsequenterweise durch das animalische Andere des popkulturellen Unbewussten verkörpert: einen Gorilla (King Kong), mit dem sie nun Tisch und Bett teilt.
Überhöhung der Wirklichkeit
So mischt der Film auf kluge und humorvolle Weise Mythen aus verschiedensten Quellen zu einem eigenwilligen magischen Realismus. Dabei erhebt Van Dormael die Literalisierung zum Prinzip: Metaphern und Assoziationen werden in konkrete, meist absurd-komische Bilder übersetzt. Durch die vielen Aufsichten (Glossar: Zum Inhalt: Kameraperspektiven) und Tableaus, die fixen Einstellungen (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen) und Frontalperspektiven gewinnt die Erzählung zudem eine theatralische Überhöhung, die das Gewicht des Themas unterstreicht und zugleich im Kontrast zur Banalität der großstädtischen Moderne steht. Die Farben (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung) und der Blick für skurrile Details erinnern an die flämische Barockmalerei, sodass selbst das nüchterne Stadtbild und die tristen Interieurs einen zauberhaften Schein bekommen. Wie zum Beweis einer höheren Macht muss die Mutter schließlich feststellen, dass die Gefolgschaft von JC in Leonardo da Vincis berühmtem Abendmahl-Gemälde auf dem goldgerahmten Druck im Wohnzimmer stetig Zuwachs bekommt – eine Art visuelles Apostel-Zählwerk.
Die gütige Göttin
"Das brandneue Testament" ist ein surreales Märchen, das mit den Zweifeln an der Existenz eines gütigen Gottes (Theodizee), der Möglichkeit des freien Willens und dem Verhältnis von Mensch und Religion zentrale theologische Fragen behandelt. Van Dormaels Fazit fällt jedoch entschieden säkular aus: Konzentriert Euch auf Liebe und Freundschaft. Und überlasst die Gestaltung der schönen neuen Welt lieber einer Göttin – der dea ex machina, die in die Dramaturgie des Welttheaters mit Hilfe von Computertechnik eingreift.