Kategorie: Hintergrund
Memorialkultur in Deutschland
Der deutsche Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus gilt vielen ausländischen Beobachtern heute als gelungenes Beispiel der Aufarbeitung diktatorischer Vergangenheit.
Der deutsche Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus gilt vielen ausländischen Beobachtern heute als gelungenes Beispiel der Aufarbeitung diktatorischer Vergangenheit. Es ist sogar die Rede von der "deutschen DIN-Norm" (Timothy Garton Ash) des Gedenkens und den "Weltmeistern der Vergangenheitsbewältigung" (Péter Esterházy). Die "Vergangenheitsbewältigung" spielt für das bundesdeutsche Selbstverständnis eine herausragende Rolle – womit die NS-Vergangenheit nicht mehr nur negativer Bezugspunkt ist, sondern nach 1990 zu einem positiven Faktor der Identitätskonstruktion einer gesamtdeutschen Geschichte avanciert. Offizielle Reden – wie die von Bundespräsident Horst Köhler 2005 vor der Knesset, dem israelischen Parlament, – verweisen auf die Verantwortung für den Nationalsozialismus und seine Verbrechen als "Teil der deutschen Identität". Die Last der Vergangenheit scheint geradezu einer "Lust am Erinnern" gewichen zu sein, die in zahlreichen Ausstellungen, Gedenkfeiern, Denkmalsetzungen und nicht zuletzt den Medien zum Ausdruck kommt. Dennoch findet weiterhin ein "Kampf um die Erinnerung" statt.
Öffentliche Kritik
Zu Beginn des Jahres 2007 stand beispielsweise der deutsche Spielfilm von Dani Levy mit der – bereits häufig diskutierten – Frage "Darf man über Hitler/den Holocaust lachen?" in der Kritik. Dem folgten im April die scharfen Reaktionen auf den Versuch des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger, in seiner Trauerrede den ehemaligen Landesvater und früheren NS-Marinerichter Hans Filbinger zu rehabilitieren und gar zum "Gegner des NS-Regimes" zu erklären. Seit der Auseinandersetzung im Sommer 2006 um den Schriftsteller Günter Grass und seine kurzzeitige Mitgliedschaft in der Waffen-SS gegen Kriegsende, sehen sich prominente Persönlichkeiten mit ihrer Vergangenheit in Organisationen des Nationalsozialismus konfrontiert, so der Philosoph Jürgen Habermas, die Schriftsteller Martin Walser und Siegfried Lenz oder der Kabarettist Dieter Hildebrandt.
Täterproblematik
Es ist nicht – wie von manchen angesichts der deutschen Wiedervereinigung, des allmählichen Ablebens der Zeitzeugen, der Generationenverschiebung und der damit verbundenen Historisierung von Nationalsozialismus und Holocaust befürchtet – zu einem Nachlassen der Erinnerung gekommen. Im Gegenteil: Immer wieder wurde auch in den 1990er-Jahren über den adäquaten, nun gesamtdeutschen Umgang mit der NS-Vergangenheit gestritten. Im Zuge der Wanderausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 des Hamburger Instituts für Sozialforschung begann 1995 eine heftige Diskussion um die aktive Beteiligung der Wehrmacht an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Auch die Goldhagen-Debatte von 1996, die durch das Buch Hitlers willige Vollstrecker des amerikanischen Politologen Daniel J. Goldhagen ausgelöst wurde, hatte den Anteil der – ganz "gewöhnlichen" – Deutschen an den NS-Verbrechen zum Gegenstand.
Deutsche als Opfer
In jüngster Zeit macht sich quasi im Gegenzug zunehmend eine Thematisierung der Deutschen als Opfer bemerkbar. Diese Tendenz findet sich in Publikationen wie Jörg Friedrichs Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945 (2002) und insbesondere in Fernsehdokumentationen wie "Hitlers letzte Opfer. Zur Geschichte von Flucht und Vertreibung" (Sebastian Dehnhardt, Christian Frey, Henry Köhler, 2007), Kinofilmen wie (Oliver Hirschbiegel, 2004) oder der zweiteiligen Fernsehproduktion "Dresden" (Roland Suso Richter, 2006). Über den Umgang mit deutschen Kriegsopfern sowie den Themenkomplex Flucht und Vertreibung ist in den vergangenen Jahren viel diskutiert worden. Besonders kontrovers verläuft die Debatte hinsichtlich der Forderung des Bundes der Vertriebenen (BdV), ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin zu errichten. Kritisiert werden vor allem der Standort sowie die mangelnde Berücksichtigung der Vorgeschichte (also des Nationalsozialismus) und der europäischen Dimension von Vertreibungen. Die im August 2006 in Berlin eröffnete Wanderausstellung Erzwungene Wege des BdV hat zum Teil versucht, diese Kritik aufzugreifen. Die Darstellung der Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderem im Kontext des Genozids an den Armeniern und des Holocaust birgt jedoch die Gefahr einer Relativierung des Völkermords in sich. Explizit wurde der Status als Opfer eines Völkermords von der Sudetendeutschen Landsmannschaft bei ihrem Pfingsttreffen im Jahr 2006 reklamiert. Der Begriff des Genozids wird dadurch universalisiert, ähnlich dem des Holocaust. Wendungen wie "roter Holocaust" für die Verbrechen der kommunistischen Regimes oder "Bomben-Holocaust" für die Bombardierung Dresdens 1945 verharmlosen die NS-Untaten.
Opfergedenken …
Einen Höhepunkt der Debatten um angemessene Formen des Erinnerns stellte die Auseinandersetzung um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin dar. Diese war verflochten mit der so genannten Walser-Bubis-Debatte des Jahres 1998. In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hatte sich Martin Walser gegen die "Dauerpräsentation unserer Schande" gewandt und das Mahnmal als "fußballfeldgroßen Alptraum" bezeichnet. Auschwitz eigne sich nicht dafür, "Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel, Moralkeule oder auch nur Pflichtübung". Seine Worte implizierten eine Schlussstrichforderung, die der damalige Präsident des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, als "geistige Brandstiftung" empfand. Auch in den Medien entspann sich eine hitzige Debatte über die "Moralkeule Auschwitz". Die Errichtung des Denkmals beschloss der Bundestag schließlich 1999, nach über zehn Jahren Diskussion. Das Stelenfeld des amerikanischen Architekten Peter Eisenman wurde im Gedenkjahr 2005 eingeweiht. Die abstrakte Form kann als allgemeine Tendenz der aktuellen Gestaltung von Denkmalen gelten. Gleichsam konkretisiert wird es durch den unterirdischen "Ort der Information", der dokumentierenden Charakter hat.
… und Ritualisierung
Kritiker/innen des so genannten Holocaust-Mahnmals prognostizierten einen Bedeutungsverlust der authentischen Orte, beispielsweise der KZ-Gedenkstätten, aber auch der "Orte der Täter" wie das ehemalige Hauptquartier der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) oder das Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin. Auch wenn sich dies nur teilweise bestätigt hat, besteht dennoch die Problematik, dass das Gedenken an die Opfer zu sehr in den Vordergrund rückt und damit eine selbstreflexive Konfrontation mit den Tätern umgehbar wird. Die hohe Bedeutung der Chiffre "Auschwitz" für die deutsche Memorialkultur manifestiert sich im offiziellen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, der seit 1996 am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers, begangen wird. Es bleibt abzuwarten, inwiefern dieser zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit in der Gesellschaft beitragen und damit Tendenzen einer unreflektierten "Anlass-Erinnerung" (Aleida Assmann) und leerer Gedenkrituale entgegenwirken kann.
Literatur und Links
Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006
Brumlik, Micha/Funke, Hajo/Rensmann, Lars: Umkämpftes Vergessen. Walser-Debatte, Holocaust-Mahnmal und neuere deutsche Geschichtspolitik, Berlin 2000
Frei, Norbert: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005
Hammerstein, Katrin: Deutsche Geschichtsbilder vom Nationalsozialismus, ion: Aus Politik und Zeitgeschichte (Bonn, bpb), 3/2007, S. 24-30.
Leggewie, Claus/Meyer, Erik: "Ein Ort, an den man gerne geht". Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik nach 1989, München/Wien 2005
Reichel, Peter: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München, Wien 1995
Young, James E.: Formen des Erinnerns. Gedenkstätten des Holocaust, Wien 1997
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Gedenkstätte und Museum Auschwitz-Birkenau
Zum externen Inhalt: zfa.kgw.tu-berlin.de (öffnet im neuen Tab)
Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA)
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NS-Gedenkstätten und Dokumentationszentren in der Bundesrepublik Deutschland