Kategorie: Filmbesprechung
"Irdische Verse"
Ayeh haye zamini
Satirischer Episodenfilm über den alltäglichen Machtmissbrauch im Iran
Unterrichtsfächer
Thema
Der Morgen bricht an über Teheran, die iranische Hauptstadt erwacht. Für die meisten Bewohner/-innen der Millionenmetropole beginnt ein ganz normaler Arbeitstag, doch manche stehen vor einem schwierigen Termin. Ein junger Vater will seinen Sohn David nennen, beim Eintrag ins Geburtsregister jedoch will der Beamte den Namen nicht erlauben. Er erscheint ihm zu "westlich", es gäbe doch auch schöne einheimische Namen. Ein kleines Mädchen mit rosa Kopfhörern und Micky-Maus-Pulli braucht vorschriftsmäßige Kleidung für eine religiöse Schulveranstaltung und verschwindet unter einem freudlosen Schleier. In insgesamt neun Vignetten aus dem iranischen Alltag versinnbildlicht "Irdische Verse" das von Repressalien und Zwängen erschwerte Leben unter einem theokratischen Regime. In jeder der etwa sechs- bis neunminütigen Episoden bleibt die Zum Inhalt: Kamera statisch auf die befragten Personen gerichtet, die aus dem Zum Inhalt: Off sprechenden Autoritätsfiguren sind unsichtbar.
Sinn und Unsinn religiöser Vorschriften im Disput
An das zunächst streng und experimentell wirkende Konzept der Filmemacher Ali Asgari und Alireza Khatami hat sich das Publikum bald gewöhnt. Die endlosen Dialoge über Sinn und Unsinn der religiösen Vorschriften sind so bizarr wie lebensnah, entwickeln mit voller Absicht satirischen Humor. Im fast unbewegten Buster-Keaton-Blick der Protagonist/-innen zeigen sich widersprüchliche Emotionen wie Verwunderung, Ärger, verzweifelte Belustigung in dem Maße, den das religiöse Regime eben noch erlaubt. Der Schülerin Aram gelingt es sogar, den Spieß umzudrehen, als sie sich vor der Rektorin für angeblich "freizügiges" Verhalten rechtfertigen muss. Die junge Taxifahrerin Sadaf kann den Vorwurf widerlegen, ohne Kopftuch Auto gefahren zu sein. Zwar liefert ein Blitzerfoto den angeblichen Beweis. Doch am Steuer saß ihr Bruder, der lange Haare trägt – im Gegensatz zu ihr. Oder ist das etwa auch verboten?
Das Vexierspiel des Kinoblicks
"Irdische Verse" entlarvt die Widersprüche und Paradoxien eines Systems, das sich trotz seiner theokratischen Struktur als Rechtsstaat begreift. Der undurchdringliche Behördendschungel ist der schwache Punkt des Regimes, den schon andere iranische Filme angegriffen haben. Aus dem mit dem Oscar® prämierten Scheidungsdrama "Nader und Simin – Eine Trennung" (Dschodāi-ye Nāder az Simin, Asghar Farhadi, Iran 2011) direkt übernommen scheint die ungewöhnliche Frontalform, die "kafkaeske" Ausweglosigkeit evoziert und die Zuschauenden auf unheimliche Weise in die Position der hinter Abstandsschranken und Schreibtischen versteckten Autoritätspersonen versetzt. Wer sind diese unsichtbaren Stellvertreter/-innen der Macht? Und gilt der erbarmungslose Kamerablick nicht vielmehr ihnen als ihren mit falschen Verdächtigungen, Beleidigungen und moralischen Belehrungen drangsalierten Opfern? Asgaris und Khatamis Film ist auch ein Lehrstück über die Ambivalenz des Kamerablicks, der Identifikation und Distanzierung, Subjektivierung und Objektivierung in beide Richtungen erlaubt.
Willkür im Behördendschungel
Bürokratie, schrieb die Philosophin Hannah Ahrendt in ihrem Buch über Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, sei "im Gegensatz zur Gesetzesherrschaft das Regime der Verordnungen". Ein solch geschlossenes System ist für Willkür und Machtmissbrauch jederzeit offen. Um seinen Führerschein zurückzuerhalten, muss ein Mann beim Verkehrsamt seinen nackten, mit Tattoos übersäten Oberkörper präsentieren. Wenn auch manche Amtsstube mit der iranischen Flagge als unübersehbarem Herrschaftszeichen geschmückt ist, zeigt der Film doch auch, dass der willkürliche Machtmissbrauch sämtliche gesellschaftliche Bereiche erfasst. Beim Bewerbungsgespräch in einer Betonfirma etwa muss sich eine 30-Jährige sexueller Zudringlichkeiten des Unternehmers erwehren. Es ist eine von mehreren Szenen, in denen die übergriffige Hand der anderen Seite kurz ins Bild kommt. Der Verweis auf #MeToo und die feministische Oppositionsbewegung Frau. Leben. Freiheit ist mehr als deutlich, doch die Zumutungen totalitärer Herrschaft betreffen hier alle sozialen Schichten und auch alle Geschlechter. Die durch die religiösen Regularien entfesselte Macht wird von Männern und Frauen sowohl ausgeübt als auch erlitten.
Filmemachen unter erschwerten Bedingungen
Über die Entstehungsbedingungen ihres Films hüllen sich Asgari und Khatami in Schweigen. Einen verzweifelt-humorvollen Verweis auf die prekäre Situation iranischer Filmemacher/-innen leisten sie sich in der Episode eines kritischen Regisseurs, der von einem Beamten der Kulturbehörde bedrängt nahezu alle Seiten seines neuen Zum Inhalt: Drehbuchs herausreißt. In der Wirklichkeit ist diese Situation gekennzeichnet von Arbeitsverboten und sogar Inhaftierungen. Seinen Titel verdankt "Irdische Verse" einem gleichnamigen Gedicht der iranischen Schriftstellerin und Filmregisseurin Forugh Farrochzad (1934-1967), das die Filmemacher auch zu ihrem apokalyptischen Schluss inspirierte: Hinter dem Rücken eines im Abspann als "100-jähriger Mann" benannten Greises fällt das im einleitenden Panoramabild (siehe Glossar Zum Inhalt: Einstellungsgrößen) so prächtige Teheran in Trümmer. Verkörpert der offenbar gramgebeugte, von den Furchen des Alters gezeichnete Mann das in die Jahre gekommene Regime der Mullahs? Oder nicht vielmehr das ihrer Herrschaft längst müde gewordene iranische Volk? Das Ende ist so verrätselt wie die politische Botschaft der Filmmacher eindeutig: Die besten Tage dieses Regimes sind längst gezählt.
Hier finden Sie ein Interview mit einer iranischen Zum Inhalt: "Es gehört eine Portion Mut dazu, heute unabhängige Filme im Iran herzustellen"Filmexpertin, Zum Inhalt: Anregungen für die außerschulische Filmarbeit sowie zwei Zum Inhalt: Arbeitsblätter für den Unterricht ab 9. Klasse.