Nachhilfe in Demokratie am Tag der deutschen Einheit. Bei den Feierlichkeiten in Dresden können die Bürger/-innen Politik hautnah erleben und für einen Schnappschuss hinterm Rednerpult posieren. Zum Abschluss erhalten alle Teilnehmenden der nachgestellten Bundestagssitzung einen schwarz-rot-goldenen Kugelschreiber. Mit dieser szenischen Miniatur beginnt Marie Wilkes essayistischer Zum Inhalt: Dokumentarfilm "Aggregat" über einen Ausschnitt bundesdeutscher Realität. "Gedreht an verschiedenen Zum Inhalt: Orten in Deutschland 2016/17", erklärt eine nüchterne Zum Inhalt: Texttafel zu Beginn des Films.

Die Zum Inhalt: Eröffnungssequenz ist bereits programmatisch für Wilkes Film, der nach einem Verhältnis sucht zwischen Öffentlichkeit und Politik, im Großen wie im Kleinen. Politiker, beschwert sich ein ernsthaft interessierter Bürger am Infostand, würden ja nur noch im Wahlkampf Kontakt zu den Leuten aufnehmen. Bürgernähe vermisse er, erklärt er dem Öffentlichkeitsarbeiter des Bundestags, der sich die Sorgen vorbeikommender Menschen anhört. Darunter auch ein älterer Herr, der sich über sinkende Renten beschwert und Geflüchtete am liebsten in Käfige sperren möchte. Die Regisseurin lässt diese Bemerkung unkommentiert stehen, als Zuschauender muss man sich selbst zu dieser Aussage positionieren.

Triftige Randnotizen aus der politischen Gegenwart

"Und ich frag mich, wo wir stehen", singt Peter Heppner in seinem Charterfolg "Wir sind wir (Ein Deutschlandlied)", der vor zwei Jahren kurzzeitig auch auf den AfD-Kundgebungen von Björn Höcke gespielt wurde. In "Aggregat" läuft das Zum Inhalt: Stück auf der PR-Veranstaltung des Bundestags, überlagert von Angela Merkels Stimme, die in einer Nachrichtenschleife im Hintergrund zu hören ist. Es ist ein vielsagender Moment, weil er eine Nähe von ästhetischen Positionen des konservativen bürgerlichen und des äußeren rechten Lagers aufzeigt. Solche Fundstücke weiß die Regisseurin von Zum Filmarchiv: "Staatsdiener" (2015), ihrem Dokumentarfilmdebüt über die Ausbildung an einer Polizeischule, pointiert einzufangen.

Aggregat, Szene (© Zorro Film)

"Aggregat" steckt voll von solchen triftigen Randnotizen, die die politische Gegenwart bilanzieren. 2016 bestimmte die Flüchtlingspolitik der Großen Koalition die politischen Debatten, die Alternative für Deutschland (AfD) erfuhr wachsende Popularität. Stimmen wie die des Senioren, der Geflüchtete einsperren möchte, sickerten vom rechtsextremen Rand in die Mitte der Gesellschaft. "Wo stehen wir?", fragt in gewisser Weise auch Wilke. Die Filmemacherin tut dies jedoch möglichst sachlich: Lange Zum Inhalt: Schwarzblenden trennen kapitelartig ihre Deutschland-Impressionen und die Zum Inhalt: ruhige Kamera lässt Zeit zum Hinschauen und Zuhören.

Formal bewahrt "Aggregat" eine nüchterne Distanz

Im distanzierten Zum Inhalt: Verité-Stil in der Tradition des US-Dokumentarfilmers Frederick Wiseman sitzt "Aggregat" Bürgergesprächen bei oder einer Versammlung von Bundestagsabgeordneten, auf der ein Teilnehmer von einem rassistischen Gewerkschafter berichtet. Auf einer SPD-Wahlkreiskonferenz im sächsischen Meißen fällt einmal die sinnfällige Formulierung "gefühlte Politik". Die Diskussionen in diesen Sitzungen drehen sich immer wieder um die Frage, ob man mit Rechtspopulisten/-innen überhaupt noch reden kann und wie es die Politik schafft, dass sich die Bürger/-innen in Zeiten wachsender ökonomischer Unsicherheit wieder repräsentiert fühlen.

Wilke registriert eine schleichende Ratlosigkeit unter den Politikerinnen und Politikern, die konkreter wird, je tiefer sich diese in die Niederungen der Kommunalpolitik begeben. Umso wichtiger ist, dass sich "Aggregat" mit Bewertungen und selbst mit subtiler Ironie zurückhält und die Arbeit an der politischen Basis wirklich ernst nimmt. Da ist zum Beispiel der gebürtige Senegalese Karamba Diaby, SPD-Bundestagsabgeordneter aus Halle (Saale). Diaby führt Journalisten zum örtlichen Bäcker und in seine Kleingartenkolonie, wo die Nachbarn versichern, was für ein Vorzeigedeutscher der Abgeordnete doch sei. "Wer sich an das Kleingartengesetz hält", sagt Diaby, "versteht auch die Regeln der Gesellschaft."

Plädoyer für Demokratie und Pluralität

"Aggregat" fächert das gesellschaftliche Panorama weit auf, begibt sich auch auf Pegida-Demonstrationen, wo aufgebrachte Redner/-innen Fremdenfeindlichkeit "gesunden Menschenverstand" nennen und gegen die "gleichgeschaltete Presse" wettern. Auch die kommt bei Wilke zu Wort. Die Medien und insbesondere das Fernsehen haben in den vergangenen Jahren eine ambivalente Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung gespielt: einerseits von rechtspopulistischen Kräften als "Lügenpresse" diffamiert, andererseits Katalysator ihrer Themen in Talkshows und durch eine erhöhte – wenn auch überwiegend kritische – Berichterstattung. Dass teils auch Medienschaffende angesichts der politischen Lage verunsichert sind, belegen Einblicke in verschiedene Redaktionen: Beim MDR sorgt sich eine Journalistin, ein Beitrag über die "Neue Rechte" könne deren Selbstinszenierung reproduzieren, während das taz-Team streitet, ob eine satirische Migrations-Schlagzeile richtig verstanden wird.

Aggregat, Szene (© Zorro Film)

Mit ihrem Film ist Wilke zweierlei geglückt: eine realistische, mitunter auch erschütternde Zustandsbeschreibung Deutschlands, dessen Bevölkerung, wie im Film deutlich wird, zwischen Politikverdrossenheit und verstärktem sozialem und politischem Engagement zu schwanken scheint. Zugleich ist "Aggregat" aber auch ein Plädoyer für Demokratie und Pluralität. Der Film zeigt, dass an der Basis Vertrauen zurückgewonnen werden kann, indem man dem diffusen Stimmungsgemisch aus Angst und Ressentiments mit Fakten begegnet. Auf der Wahlkreis-Konferenz der SPD in Meißen legt ein Teilnehmer Widerspruch ein gegen eine Passage des Parteiprogramms, laut der die deutsche Gesellschaft im Jahr 2016 sicherer sei als je zu vor. Der Satz sei der Bevölkerung heutzutage nicht mehr zu vermitteln. Die Vorsitzende entgegnet, dass der Anteil an Straftaten statistisch gesehen jährlich abnehme. "Wir dürfen nicht so tun, als müssten wir uns in Bürgerwehren selbst bewaffnen." Mit einer Abstimmung beschließt die Fraktion schließlich, dass die Passage erhalten bleibt. Rationalität statt "gefühlter Politik".

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