Kategorie: Interview
"Der filmische Zugang zur Erinnerungskultur ist sehr niedrigschwellig"
Die Filmhistorikerin Dr. Sonja Begalke über die Darstellung des Widerstands im deutschen Film seit 1945
Die Historikerin Dr. Sonja Begalke veröffentlichte den Band NS-Herrschaft und demokratischer Neubeginn in der Publizistik nach 1945. Seit 2014 wirkt sie bei der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZ) in Berlin, seit 2022 als Fachreferentin Kultur.
kinofenster.de: Frau Begalke, Hilde Coppi gehörte zu einem Widerstandsnetzwerk, das die Nationalsozialisten als Rote Kapelle bezeichneten. Was kennzeichnete diese Gruppierung?
Sonja Begalke: Es stimmt, Rote Kapelle ist ein nationalsozialistischer Begriff. Rot bezieht sich auf kommunistisch und die fälschliche Zuschreibung, dass es sich um eine aus der Sowjetunion gelenkte Spionagegruppierung handele. Kapelle wiederum ist ein Synonym für eine angeblich orchestrierte Gruppe, die nachrichtendienstlich über Funk tätigt. Dem Netzwerk gehörten etwa 150 Personen an, die aus allen gesellschaftlichen Schichten stammten – darunter viele Frauen. Ähnlich wie in der Gruppe des 20. Juli handelte es sich um couragierte Persönlichkeiten, die ihren Einfluss nutzen, um gegen das nationalsozialistische Regime zu kämpfen. Den Kern bildeten mehrere Berliner Freundes- und Widerstandskreise, die sich zum Teil konspirativ trafen und die entweder über Mitglieder in NS-Behörden und dem Militär oder zumindest über gute Kontakte verfügten. Was sie eint: Ihre Motivation für den Widerstand entsprang einem humanistischen Weltbild. Das steht auch bei Zum Filmarchiv: "In Liebe, Eure Hilde" (Andreas Dresen, DE 2024) im Vordergrund.
kinofenster.de: Halten Sie die historische Darstellung für angemessen?
Sonja Begalke: Ja! Der Film macht den Kern von Anstand und Widerstand deutlich: Das Ringen mit der Angst und trotzdem Zivilcourage zu beweisen. Andreas Dresen stellt eine vermeintlich zarte Frau in den Mittelpunkt, die eine Entwicklung durchmacht: Sie beweist Stärke. Sie verdeutlicht letztlich, dass der Widerstand aus Empathie für die Entrechteten erwächst – und nicht aus einer Ideologie oder einem Parteibuch heraus. Das macht die Geschichte äußerst wertvoll für das Kino. Zugleich reduziert Dresen im Zum Inhalt: Kostümbild und im Setdesign (Glossar: Zum Inhalt: Production Design/Austattung) das Martialische – Uniformen und NS-Insignien – auf ein Minimum. Anfänglich wirken die Gestapo-Beamten in den Verhören fast freundlich, aber sie sind manipulativ und letztlich gibt es für die Widerstandskämpfer/-innen keine Gnade.
kinofenster.de: Die Auseinandersetzung mit NS-Täter/-innen beginnt im deutschen Spielfilm sehr früh: Bereits 1946 wurde Zum Filmarchiv: "Die Mörder sind unter uns" gedreht. Wann beginnen Filmemacher/-innen, den Widerstand zu thematisieren?
Sonja Begalke: Deutlich später. Und dann muss auch zwischen der Bundesrepublik und der DDR unterschieden werden. Hier gibt es unter anderem mit dem Zum Inhalt: Biopic "Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse" (Kurt Maetzig und Johannes Arpe, DDR 1954) sowie "Nackt unter Wölfen" frühe Beispiele. "Nackt unter Wölfen" wurde zuerst als Fernsehproduktion 1960 von Georg Leopold in Szene gesetzt, drei Jahre später kam der Film von Frank Beyer in die Kinos. In der Bundesrepublik stellt "Es geschah am 20. Juli" (G.W. Pabst, BRD 1955) eine frühe Auseinandersetzung dar.
kinofenster.de: Inwieweit unterschieden sich die Narrative in der Bundesrepublik und in der DDR?
Sonja Begalke: In der DDR stellte der Antifaschismus Staatsdoktrin dar. Der Fokus lag auf dem kommunistischen Widerstand. Auch die Rote Kapelle wurde als ideologisch motiviert dargestellt. Widerstand in Fernseh- und Spielfilmen der Bundesrepublik wurde in erster Linie bürgerlichen, vor allem aber militärischen Kreisen zugeordnet. In der Bundesrepublik der Nachkriegszeit sahen aber nicht wenige im Widerstandskreis um den 20. Juli nach wie vor "Landesverräter". Die Witwen der Militärs erhielten anfänglich keine Renten. Die Verfilmung von G.W. Pabst ("Es geschah am 20. Juli" ) spiegelte ein gewisses Umdenken wider: Ab 1955 gedachte die Bundesrepublik den Männern um Stauffenberg und benannte Straßen um. Doch die NS- Unrechtsurteile gegen sie wurden erst sehr viel später aufgehoben. In der DDR wiederum wurde der militärische Widerstand bis Anfang der 1980er-Jahre so gut wie gar nicht thematisiert.
kinofenster.de: Ebenfalls unterrepräsentiert scheint die Darstellung des jüdischen Widerstands im deutschen Spielfilm zu sein. Teilen Sie diesen Eindruck?
Sonja Begalke: Ja. Es gab nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wenig Empathie mit den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus. Vor allem in der Bundesrepublik herrschte die Tendenz der Abwehr und Verleugnung der NS-Verbrechen vor. Das änderte sich in den 1980er-Jahren. Es gab eine stärkere historische Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. In der DDR wurde die Shoah hingegen kaum thematisiert. Ebenso wenig gab es Bemühungen, jüdische Gemeinden und Synagogen wieder aufzubauen. Weder in der Bundesrepublik noch in der DDR spielte jüdischer Widerstand im öffentlichen Diskurs eine Rolle. Diese Leerstelle spiegelt sich dann auch in den deutschen Zum Inhalt: Drehbüchern wider. Eine Ausnahme bildet Zum Filmarchiv: "Rosenstraße" (Margarethe von Trotta, DE 1993), der den Berliner Rosenstraßen-Protest von 1943 thematisiert.
kinofenster.de: "Rosenstraße" rückt ebenso weiblichen Widerstand in den Fokus – wie auch In Liebe, Eure Hilde. Welche Rolle spielt die Darstellung des weiblichen Widerstands im deutschen Spielfilm?
Sonja Begalke: In jedem Fall eine marginale. Aber das korrespondiert mit der Geschichtsschreibung, die lange männlich dominiert war. Dabei gab es ebenso den weiblichen Widerstand, beispielsweise jüdische Frauen, die in den Untergrund gingen oder Partisaninnen. Im Konzentrationslager Ravensbrück waren zwischen 1939 und 1945 mehr als 100.000 Frauen interniert. Viele von ihnen hatten zuvor Widerstand gegen die Nationalsozialisten geleistet. Es gibt zahlreiche Filme darüber, die wenigsten stammen aus Deutschland. Ausnahmen sind der Zum Inhalt: Dokumentarfilm "Frauen in Ravensbrück" (Joop Huisken und Renate Drescher, DDR 1968) oder die Zum Filmarchiv: "Spielfilme" "Vergesst mir meine Traudel nicht" (Kurt Maetzig, DDR 1957) und "Eine Gefangene bei Stalin und Hitler" (Paul May, DE 1968). "Rosenstraße" bedeutet sicherlich einen Wendepunkt. Denn seitdem gibt es deutlich mehr Spielfilme, die den weiblichen Widerstand thematisieren, beispielsweise Zum Filmarchiv: "Sophie Scholl – Die letzten Tage" (Marc Rothemund, DE 2005) oder Zum Filmarchiv: "Die Passfälscher" (Maggie Peren, DE/LUX 2022).
kinofenster.de: Welchen Beitrag können Spielfilme hinsichtlich der Erinnerungskultur leisten?
Sonja Begalke: Der filmische Zugang zur Erinnerungskultur ist sehr niedrigschwellig und alles andere als voraussetzungsreich. Man betritt mit dem Kino einen emotionalen Erfahrungsraum. Diese emotionale Erfahrung besitzt das Potential, ein Türöffner zu sein – für Themen, mit denen sich sonst nicht unbedingt beschäftigt wird. Spielfilme fördern die Empathie und nicht wenige Zuschauende fragen sich beim Thema NS-Widerstand, wie sie selbst gehandelt hätten.