Die erste Assoziation zum Werk von Alfred Hitchcock ist in der Regel die prominent darin enthaltene, raffiniert konstruierte Spannung. Betont wird dabei meist eine bestimmte Technik zur Spannungserzeugung, die Hitchcock zur Meisterschaft führte: der oder die " Zum Inhalt: Suspense", im Deutschen annäherungsweise als "gespannte Erwartung" beschreibbar. Daneben gibt es mit der "Surprise" oder Überraschung und dem "Mystery" oder Rätselraten zwei weitere Techniken zur Herstellung von Spannung, die Hitchcock ebenfalls einsetzte.

Im Interviewbuch Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? (1966) von François Truffaut erklärt Hitchcock den Unterschied zwischen Suspense und Surprise. "Wir reden miteinander, vielleicht ist eine Bombe unter dem Tisch, und wir haben eine ganz gewöhnliche Unterhaltung, nichts Besonderes passiert, und plötzlich, bumm, eine Explosion." Das Publikum sei überrascht, die Zum Inhalt: Szene davor aber "ganz gewöhnlich, ganz uninteressant" gewesen. Für Suspense sei ein anderer Aufbau nötig: "Die Bombe ist unterm Tisch, und das Publikum weiß es. (…) Dieselbe unverfängliche Unterhaltung wird plötzlich interessant, weil das Publikum an der Zum Inhalt: Szene teilnimmt." Im ersten Fall habe das Publikum "fünfzehn Sekunden Überraschung", im zweiten bekomme es "fünf Minuten Suspense" geboten. Hitchcock: "Bei der üblichen Form von Suspense ist es unerlässlich, dass das Publikum über die Einzelheiten, die eine Rolle spielen, vollständig informiert ist."

Wesentlich für Suspense ist also der Wissensvorsprung des Publikums gegenüber den Filmfiguren. Bei der Surprise tritt ein Ereignis hingegen ganz plötzlich ein. Die Überraschung wirkt als kurzer Schock, Suspense schwelt länger. Die dritte Spannungsart, Mystery, zeichnet sich im Gegensatz zum Suspense durch das gezielte Auslassen von Informationen aus. Für Hitchcock ist "Rätselhaftes" selten Suspense. Ein Whodunit ("Wer hat es getan/ist der Täter?") erwecke Neugier ohne jede Emotion. "Emotionen sind aber notwendiger Bestandteil des Suspense."

Suspense und Surprise: Der "Duschmord" aus "Psycho"

Hitchcocks Kernspezialität ist der Suspense. In der Praxis inszeniert er indes oft Mischungen der Spannungstypen in wechselnden Konstellationen. Der berühmt-berüchtigte "Duschmord" aus Zum Filmarchiv: "Psycho" (USA 1960) ist ein klassischer Kinomoment, der Suspense und Surprise miteinander kombiniert.

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Zunächst hat die Sequenz ein Vorspiel: Durch ein verstecktes Guckloch in der Wand beobachtet Norman Bates, wie sich Marion entkleidet.

Norman Bates als Voyeur (Screenshots aus "Psycho" , Alfred Hitchcock, USA 1960)

Die Situation zeigt einen Male Gaze und erzeugt, wie Truffaut anmerkt, eine Erwartungshaltung für den Fortgang der Zum Inhalt: Sequenz – dass Bates "nur ein Voyeur" ist. Die Hinleitung zum Mord kann man mit Truffaut als "Ablenkungs-Suspense" verstehen, "damit die Überraschung gleich darauf vollkommen ist".

Auch wegen der vorgeschalteten Voyeur-Situation meint das Publikum, dass die schemenhaft erkennbare Person Norman Bates ist – ein (vermeintlicher) Trugschluss (Screenshot aus "Psycho" , Alfred Hitchcock, USA 1960).

Die Mordsequenz selbst hat Suspense-Anteile, setzt aber vor allem auf den Schock durch die unvermittelte Ermordung des Stars in der Mitte des Films. Es beginnt mit Suspense: Als Marion unter der Brause steht, schleicht hinter dem Duschvorhang ein menschlicher Umriss heran. Anders als die arglose Protagonistin sieht das Publikum die Gefahr kommen und ist der Natur des Kinos gemäß zum tatenlosen Zuschauen verdammt. Mit dem Aufreißen des Duschvorhangs wechselt der Modus schlagartig vom Suspense zur Surprise. Einerseits überrascht es, dass eine mysteriöse Frauengestalt Marion ersticht. Andererseits trifft der unerbittlich durchgezogene Mord an der Hauptfigur das Publikum völlig unvorbereitet.

Surprise, Surprise! Ein waschechter Überraschungsschock (Screenshots aus "Psycho" , Alfred Hitchcock, USA 1960).

Hitchcock hat mit dem vorherigen Aufbau des Films gezielt auf diesen Moment hingearbeitet. Marions Diebstahl bezeichnet er als "Dreh, der die Aufmerksamkeit ablenken soll, um den Mord besonders stark zu machen, dass er wirklich völlig überraschend kommt". Deshalb habe er die Bedeutung des Geldes hochgespielt. "Man dreht und wendet das Publikum und hält es möglichst weit von dem entfernt, was sich wirklich ereignen wird."

Die Mordsequenz ist ein Paradebeispiel für eine Montage, die die Fantasie des Publikums als Komplizin einpreist. In keiner Einstellung dringt das Messer in Marions Körper ein; auch Blut ist erst spät zu sehen. Grausam wird der Mord durch die Imagination der Zuschauenden. Hitchcock: "Selbstverständlich berührt das Messer nie den Körper, das ist alles beim Schnitt gemacht worden" (Screenshot aus "Psycho" , Alfred Hitchcock, USA 1960).

Zugespitzt wird die Verunsicherung des Publikums durch bewusste "Regelverstöße" und Grenzüberschreitungen. Provokant ist der für damalige Verhältnisse hohe Grad an Gewalt und Nacktheit, was der seinerzeit in Hollywood gültige Zum Inhalt: Production Code reglementierte. Obgleich die Geschlechtsmerkmale ausgespart sind, besteht kein Zweifel daran, dass Marion nackt ist. Parallel spürt das Publikum auch die Einzelheiten der Ermordung, ohne sie zu sehen. Eine Schlüsselrolle spielt neben der schnellen Einstellungsfolge (Glossar: Zum Inhalt: Einstellung) die atonale Zum Inhalt: Musik von Bernard Herrmann, die ebenso plötzlich einsetzt wie der Messerangriff.

Das Close-up (Glossar: Einstellungsgrößen) greift Normans beobachtendes Auge aus dem Vorspiel der Mordsequenz auf (Screenshots aus "Psycho" , Alfred Hitchcock, USA 1960).

Nochmal "Psycho" : Suspense auf der Treppe

Die Wucht der Mordsequenz schwingt im weiteren Verlauf von "Psycho" stetig mit. Hitchcock: "Hinterher gibt es, je weiter der Film fortschreitet, immer weniger Gewalt, denn die Erinnerung an diesen ersten Mord reicht aus, um die späteren Suspense-Momente furchterregend zu machen." Einer dieser Momente ist die Sequenz, in der Detektiv Arbogast die Bates-Villa betritt.

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Der Suspense auf der Treppe zehrt von der vorangegangenen Informationsverteilung. Hitchcock fasst die Vorbereitung zusammen: "Dass da eine geheimnisvolle Frau im Haus sein sollte, dass diese Frau aus ihrem Haus herausgekommen sei, um die junge Frau unter der Dusche zu erstechen. Alles was der Treppenszene Suspense verleihen konnte, war in diesen Elementen angelegt." Deshalb antizipiert das Publikum Schauderhaftes.

Der Detektiv Arbogast entscheidet sich, die Treppe hinaufzugehen – sein letzter Gang (Screenshots aus "Psycho" , Alfred Hitchcock, USA 1960).

Potenziert wird die Erwartungshaltung durch die atmosphärische Zum Inhalt: Inszenierung: Die Villa erinnert an ein viktorianisches "Horror-Haus", die spannungsvolle Musik erhöht das Mitfiebern, die expressive Zum Inhalt: Lichtgestaltung stiftet zusätzliche Unruhe.

Arbogast geht extra unspektakulär die Treppe hinauf. Das Alltägliche steht im Kontrast zum Unheil, das das Publikum erahnt. Unterdessen verstärkt Hitchcock den Suspense mit der Aufnahme einer sich öffnenden Tür (Screenshots aus "Psycho" , Alfred Hitchcock, USA 1960).
Beim Angriff ist die Kamera hoch platziert. Die Perspektive verschleiert die Identität der angreifenden Person. Zudem schafft die Totale einen Kontrast zur folgenden Großaufnahme von Arbogasts erschrockenem Gesicht. Hitchcock: "Das ist genau wie Musik. Die Kamera oben: Geigen. Und plötzlich groß das Gesicht: ein Beckenschlag!" (Screenshots aus "Psycho" , Alfred Hitchcock, USA 1960).

Hitchcock setzt in "Psycho" nicht nur auf Suspense, sondern auch auf Surprise. Hinzu kommen mit der Verrätselung der Täterschaft Mystery-Aspekte. Das Wegweisende daran ist, dass Hitchcock die Spannung mit genuin filmischen Mitteln erzeugt. Oder, wie er selbst es ausdrückt: "Es war der reine Film, der die Zuschauer erschüttert hat."

Gespiegelter Suspense in "Das Fenster zum Hof"

Auch in Zum Filmarchiv: "Das Fenster zum Hof" (Rear Window, USA 1954) mischt Hitchcock die Spannungstypen. Offensichtlicher als in "Psycho" konstruiert er dabei eine selbstreflexive Note und führt durch den Protagonisten Jeff die Wirkung von Suspense auf das Publikum vor. Eine Zum Inhalt: Sequenz aus dem Schlussteil des Films belegt Hitchcocks inszenatorische Strategie. Jeff beobachtet, wie Lisa in die Wohnung des mutmaßlichen Mörders Thorwald eindringt. Seine Reaktionen im Verlauf der Sequenz spiegeln die Anspannung des Publikums.

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Jeff beobachtet durch das, so seine Pflegerin Stella, "tragbare Schlüsselloch"(Screenshot aus "Das Fenster zum Hof" , Alfred Hitchcock, USA 1954).
Der Suspense beginnt, als Thorwald heimkehrt, während sich die nichtsahnende Lisa noch über den Fund des Eherings freut. Das Anschlussbild zeigt das Entsetzen von Stella und Jeff. Nicht im Bild: Der Zuschauer als Dritter im Bunde, dem es ähnlich ergeht (Screenshots aus "Das Fenster zum Hof" , Alfred Hitchcock, USA 1954)
Die stetigen "reaction shots" (Glossar: Schuss-Gegenschuss-Technik) spiegeln und verstärken die Emotionen des Publikums. Truffaut: "James Stewart an seinem Fenster, das ist übrigens die Situation des Kinozuschauers" (Screenshots aus "Das Fenster zum Hof" , Alfred Hitchcock, USA 1954)
Als Höhepunkt ertappt Thorwald Jeff und Stella – und somit auch das Publikum – beim "Spannen". Ein Surprise-Moment am Ende einer Sequenz, die spannungstechnisch vor allem auf Suspense setzt. Zusätzlich spielt Mystery-Spannung eine Rolle: Die Frage nach Thorwalds Schuld oder Unschuld bedarf der Klärung (Screenshot aus "Das Fenster zum Hof" , Alfred Hitchcock, USA 1954).

Nicht von ungefähr gilt Alfred Hitchcock als "Master of Suspense". Mindestens gleichberechtigt jedoch verwendet der Regisseur das Überraschungsmoment der Surprise. Auch das in seinen Aussagen oft stiefmütterlich behandelte Rätselraten ist ein relevanter Faktor. Die präzise arrangierte Spannungsklaviatur schafft die typische "Hitchcock-Formel".

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