Welchen Beitrag können Filme zu Inklusion, Spracherwerb und kultureller Bildung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen leisten? Als Lehrerin einer Deutschlernklasse habe ich die Erfahrung gemacht: Filme können vieles, was Schulunterricht, der die deutsche Sprache und Kultur vermitteln will, nicht ohne Weiteres kann. Filme zeigen statt zu erklären. Sie sprechen unsere Gefühle an und geben Anlass, sich darüber auszutauschen.

Initiativen und Organisationen haben mittlerweile eine Reihe von speziellen Filmprojekten für geflüchtete Heranwachsende konzipiert, um ihnen die ersten Schritte im Ankunftsland zu erleichtern. Sie sehen sich dabei mit einer Reihe von Fragen konfrontiert: Sollen die Jugendlichen Filme sehen oder selbst herstellen? Welche Filme eignen sich, um sie der Zielgruppe vorzuführen? Steht bei der eigenen Filmproduktion die Auseinandersetzung mit Filmsprache im Vordergrund oder sollen die teilnehmenden Jugendlichen die Möglichkeit erhalten eigene Geschichten zu erzählen? Und nicht zuletzt: Wie geht man bei der filmrezeptiven und -produktiven Arbeit mit Sprachbarrieren um? Eine Auswahl an Best-Practice-Beispielen zeigt, wie vielfältig die Herangehensweisen und Zielsetzungen dabei sind:
Filme als spielerisch-kreatives Mittel zum Spracherwerb (Trickmisch), Filme als Zugang zur hiesigen Kultur (Cinemanya), Filme als Anlass zu Begegnung und kulturellem Austausch – durchs Schauen (Blickwechsel Jetzt) oder durchs Selbermachen (Mix It!) – und sogar das Kuratieren von Filmen als Möglichkeit für kulturelles Empowerment und umgekehrten Kulturaustausch (Kino Asyl).

Filmprojekt Mix It!, Teaser (© Deutsche Filmakademie)

Filme zeigen und darüber sprechen

Eine offensichtliche und organisatorisch die einfachste Möglichkeit ist es, Filme zu zeigen. Dabei liegt ein großes Potenzial des Mediums darin, wichtige Aspekte hiesigen kulturellen Selbstverständnisses den Jugendlichen über typische Themen, Konflikte und gesellschaftspolitische Fragestellungen anschaulich und in Geschichtenform zu vermitteln. Wer beispielsweise einen Film über ein blindes Mädchen sieht, das im Laufe der Geschichte selbstbewusst eine Musikband gründet – wie im Film (2004) –, wird sensibilisiert für die Situation Benachteiligter, erfährt etwas über ihr Leben in Deutschland und entwickelt idealerweise eine Bereitschaft, sich mit der Lage blinder Menschen auseinanderzusetzen.

"Die Blindgänger" ist auch im sogenannten Filmkoffer enthalten, den das Goethe Institut in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Jugend und Film (BJF) im Rahmen des Projektes Cinemanya für Willkommensklassen zusammengestellt hat. Darin befinden sich DVDs von 18 deutschen Langfilmen mit arabischen Untertiteln oder Sprachfassungen, zwei Zum Inhalt: Animations- und Kurzfilmprogramme sowie ein pädagogisch aufbereitetes Filmhandbuch, in dem Zusammenfassungen und Diskussionsanregungen für die Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen enthalten sind.

Filme bieten in der Regel gute Gesprächsanlässe. Worum geht es in dem Film? Was hat gefallen, was nicht? Schon mit recht einfach gestalteten Fragen lassen sich Gespräche initiieren, die weiterführend eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit dem Gesehenen befördern. "Anfangs sind die Jugendlichen oft zögerlich", hat Kristin Vogel beobachtet, die in Sachsen als Filmpatin in Willkommensklassen Filme der Cinemanya-Reihe vorführt und nachbereitet. "Doch oft ergeben sich angeregte Gespräche, in denen sie sich mit der hiesigen Kultur auseinandersetzen und auch über Gemeinsamkeiten nachdenken." Besonders wenn eine Gruppe das Kino-Format bereits kennt, nimmt sie gerne an dem Gespräch danach teil. Dabei gehen die Moderatorinnen und Moderatoren auch auf die Interessen der Kinder und Jugendlichen ein und fragen etwa nach, warum bei bestimmten Szenen besonders viel gelacht wurde. Je nach Film ergeben sich dabei unterschiedliche Themen und Fragen. Nach Zum Filmarchiv: "Fack Ju Göhte" (2013) mussten etwa erst einmal dargestellte Klischees über Deutschland von der gesellschaftlichen Realität unterschieden werden. Nach dem Fußballfilm Zum Filmarchiv: "Der ganz große Traum" (2011) wollten sich die jungen Zuschauer/-innen dagegen vor allem über eigene Fußball-Erfahrungen austauschen.

Spielerischer Spracherwerb

Kristin Vogel hat auch im Hinblick auf das Deutsch-Lernen gute Erfahrungen gemacht. Im Allgemeinen unterstützt das Medium Film den Spracherwerb durch die veranschaulichenden bewegten Bilder. Bei Cinemanya sind die Filme zudem arabisch untertitelt. Die Untertitel verstärken durch die Gleichzeitigkeit mit dem gesprochenen Deutsch im Film indirekt das Sprachtraining. Und auch bei den Anschlussgesprächen können die Kinder und Jugendlichen die neue Sprache üben, auch wenn meist Übersetzer dabei sind: "Wir halten die Schüler dazu an, so viel Deutsch zu sprechen, wie sie können", sagt die Filmpatin.


Wie Filme gezielt zum Spracherwerb eingesetzt werden können, das hat auch das Netzwerk für Film und Medienkompetenz Vision Kino in ihrem Pilotprojekt Deutsch lernen mit Filmen: Sehen, Verstehen & Sprechen mit 18 Berliner Willkommensklassen aller Schularten aller Schularten eruiert. Im Mittelpunkt stand die Frage, welche Kinder- und Jugendfilme – u.a. etwa Zum Filmarchiv: "Heidi" oder – für die Arbeit mit jungen Geflüchteten besonders geeignet sind und welche medienpädagogischen Unterrichtsmaterialien diese Arbeit unterstützen können. "Zentrale Aufgabe der Willkommensklassen ist der Spracherwerb", weiß Kathrin Behrens, die dieses Projekt für Vision Kino betreut hat. "Da sind Filme eine geeignete Abwechslung und haben über ihre Verbindung von Bild und Sprache sozusagen eine emotionale Tiefenwirkung." Aus den Ergebnissen dieser begleiteten Kinovorstellungen entwickelt das Netzwerk derzeit Unterrichtsmaterialien für verschiedene Jahrgangsstufen, die ab Ende September 2016 auf der Vision Kino-Website zum Download bereit stehen.

Deutlich niedrigschwelliger erfolgt der Spracherwerb beim 2013 in Berlin gegründeten mobilen Sprachlabor Trickmisch. Mit Tricktischen, Zum Inhalt: Film-Schnittplätzen, einem Mini-Aufnahmestudio ausgestattet, sind Julia Kapelle und ihre Kollegen/-innen an Berliner Schulen unterwegs und unterstützen geflüchtete Kinder und Jugendliche dabei, eigene kurze Zum Inhalt: Trickfilme zu gestalten und einzusprechen. Dabei lernen sie spielerisch die Vokabeln, die sie benötigen, um ihre Geschichte zu erzählen. 150 Filme sind mittlerweile entstanden. Die meisten sind online abrufbar und dienen ihrerseits als Lehrfilme – inklusive bildgestütztem Vokabeltraining.

Trickmisch, Kurzfilm: Der Durchbruch (© Trickmisch)

Kulturvermittlung mithilfe von Filmen

Film kann etwas über die deutsche Gesellschaft oder über die westliche Kultur vermitteln, aber ebenso auch Einblicke in die Herkunftsländer der Geflüchteten geben. Versteht man Inklusion als einen Prozess, der das Aufeinanderzugehen von verschiedenen Seiten erfordert, ist dieser Aspekt durchaus bedeutsam. Auf dieser Idee basiert auch das Münchener Filmfestival Kino Asyl: Es unterstützt und befähigt Jugendliche mit Fluchthintergrund dazu, ein eigenes Filmprogramm zu kuratieren – mit Filmen ihrer Heimatländer, die sie einem deutschen Publikum zeigen möchten. Ein anspruchsvolles Projekt, bei dem die jungen Kuratorinnen und Kuratoren nicht nur die Auswahl der Filme verantworten, sondern auch die gesamte Öffentlichkeitsarbeit von Flyer-Gestaltung bis zu Pressegesprächen. "Gemeinsames Essen ist bei den Treffen ganz wichtig", sagt die Organisatorin Mareike Schemmerling. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass zunächst ein Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen muss, damit sich die jungen Geflüchteten für das Projekt begeistern. Gelingt dies, so erhalten die jungen Teilnehmenden nicht nur eine Fortbildung im Bereich Kulturmanagement, sondern sie machen auch die Erfahrung, als Kulturexpertinnen und -experten im Zentrum des öffentlichen Interesses zu stehen. Nach Ansicht von Mareike Schemmerling bietet das Projekt einen Raum, in dem sie selbst handeln und sich entfalten können – und das ist eine Erfahrung, die geflüchteten Menschen außerhalb der Heimat oft erst einmal genommen ist.

Kinobesuch als Begegnung

Treffen sich einheimische und geflüchtete Jugendliche im Kino, so muss man sich als Organisator/-in überlegen, welche Filme beide Gruppen ansprechen und ausreichend Gesprächsstoff bieten. Das Kino- und Begegnungsprojekt Blickwechsel Jetzt des Deutschen Filminstituts in Frankfurt am Main zeigt im hauseigenen Kino des Filmmuseums eine bunte Mischung von Filmen, angefangen beim Charlie-Chaplin-Stummfilm, den die geflüchteten Jugendlichen bereits kannten, über Filmklassiker wie "Manche mögen’s heiß" (1959) bis zu zeitgenössischen Kurzfilmen aus Afghanistan. Die Sprache ist dabei unproblematisch, berichtet Dr. Vanessa Aab, Initiatorin und ehrenamtliche Begleiterin des Projekts: "Selbst wenn sie nicht alle Worte verstehen, erfassen die Jugendlichen in der Regel den Film als Ganzes."

Auch bei diesem Projekt ist im Anschluss noch Zeit für – allerdings unmoderierte – Gespräche, die in lockeren Kleingruppen stattfinden. "Es soll nicht anstrengend sein für die Geflüchteten – anstrengende Situationen haben sie in ihrem Leben gerade genug –, sondern sie sollen einen Raum haben, in dem sie positive Erfahrungen machen, Filmkunst aus verschiedenen Epochen und aller Welt kennenlernen und sich mit Gleichaltrigen auf Augenhöhe austauschen können, wenn sie möchten", erklärt Vanessa Aab die Idee. Die Treffen werden sehr gut angenommen, berichtet die Initiatorin. Viele der Jugendlichen kommen immer wieder ins Kino des Deutschen Filmmuseums. So entsteht im Rahmen des Projekts ein Raum, in dem über wiederholte Begegnungen Freundschaften entstehen können.

Gemeinsamkeiten entdecken

Noch intensiver können Begegnungen und auch Lernerfahrungen bei der gemeinsamen Filmproduktion sein. Die Kinder und Jugendlichen tauschen sich darüber aus, wie sie Dialoge erstellen und Bildelemente erdenken, wie sie die Kamera führen sowie Zum Inhalt: Schnitt und Zum Inhalt: Ton zusammenbringen. Mit diesem Ansatz arbeitet Mix It!, ein Projekt der Deutschen Filmakademie und des medienpädagogischen Vereins bilderbewegen: Im Laufe von fünf Projekttagen entwickeln einheimische und geflüchtete Jugendliche aus Berlin und Brandenburg gemeinsame eigene Kurzfilme. Die Organisatoren haben sich für das Motto "Identität" entschieden, um die Jugendlichen anzuregen, über Unterschiede und Gemeinsamkeiten nachzudenken. Der Wunsch nach dem Verbindenden wird in den Videos oft deutlich, z.B. im Kurzfilm "Let’s think about love" : "The more we love each other, the more we understand each other. So I think we have to understand each other, it’s the best thing for me", sagt darin ein Jugendlicher, der vor kurzem aus Gambia nach Deutschland kam.

Filmarbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen setzt niedrigschwellige Angebote voraus. Schwerpunkt ist die Vermittlung von Sprach- und kultureller Kompetenz, somit stehen filmästhetische Aspekte erst einmal hinten an. In allen Projekten wurde die Erfahrung gemacht, dass sowohl durch filmrezeptive wie auch -produktive Ansätze die Kinder und Jugendlichen erkannten, dass Gemeinsamkeiten mit Gleichaltrigen überwiegen. Von daher trägt Film nicht nur zur Integration bei, sondern ist ein möglicher Schlüssel zur inklusiven Gesellschaft.

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Aktuelles Thema: Flucht und Asyl

Kategorie: Artikel

Die wenigsten von uns verstehen, was es für einen Menschen bedeutet, sein Heimatland unter Lebensgefahr verlassen zu müssen, um in einer fremden Kultur ein neues Leben zu beginnen. Aus aktuellem Anlass haben wir einige Filmkritiken und Hintergrundartikel aus dem Kinofenster-Archiv zusammengestellt, die dabei helfen sollen, im Schulunterricht mit Kindern und Jugendlichen die Themen Flucht und Migration zu behandeln.