Im Winter 1987 kehrt die Filmemacherin Helke Misselwitz an den Bahnübergang bei Zwickau zurück, wo sie 40 Jahre zuvor in einem Krankenwagen geboren wurde. Dieser Ort ist der Ausgangspunkt für eine Reise, die sie mit dem Zug quer durch die DDR von Sachsen bis an die Ostsee unternehmen wird. Misselwitz hat in verschiedenen Berufen gearbeitet, zwei Ehen hinter sich, Kinder geboren, Film studiert und ist Meisterschülerin bei Regisseur Heiner Carow ("Die Legende von Paul und Paula" , DDR 1973). Nun will sie wissen, "wie andere gelebt haben, wie sie leben möchten" in einem Land, das in seiner Verfassung "die volle Gleichberechtigung von Mann und Frau" festgelegt hat.

Wichtiger Hinweis:

Von der ersten Minute an setzt Helke Misselwitz einen persönlichen Ton für ihren Zum Inhalt: Dokumentarfilm. Die Filmemacherin erläutert im Zum Inhalt: Voiceover ihr Vorgehen, ab und zu ist sie selbst im Bild zu sehen. Strukturiert wird der Film durch die geografische Reise, chronologisch geht die Regisseurin jedoch nicht vor. Die mal zufälligen, mal geplanten Begegnungen mit Frauen verschiedenen Alters und unterschiedlicher sozialer Herkunft finden im Zug (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set) statt, führen manchmal an die Arbeitsstätten oder in die Küchen und Wohnzimmer. Misselwitz geht von individuellen Biografien aus und öffnet darüber den Blick für gesellschaftliche Zusammenhänge und Stimmungen.

Frauenleben – ein Jahr vor dem Fall der Mauer

Da ist etwa Christine Schiele. Achtmal am Tag dreht sie ihre Runde durch eine Brikettfabrik im Kreis Altenburg und schlägt mit einem großen Hammer gegen Schlote und Schächte, damit sich dort kein Ruß festsetzt. Der Maschinenlärm ist ohrenbetäubend, schwarzer Staub liegt in der Luft. In ihrer Arbeitskleidung, mit Schutzhelm und schwerem Werkzeug, steht die zierliche Frau für das gesellschaftliche und politische DDR-Ideal der "werktätigen Frau und Mutter". Doch wenn Christine später im Blümchenkleid an ihrem Küchentisch sitzt, wird deutlich, dass die 37-Jährige ohne Ausbildung und als allein erziehende Mutter von zwei Kindern keine andere Arbeit finden kann. Die größte Sorge gilt ihrer geistig behinderten 18-jährigen Tochter. Christine fühlt "sich ausgestoßen", weil sie ein Kind hat, "das eine Belastung ist". Ihre Aussagen lässt die Regisseurin – wie die von allen anderen Frauen auch – für sich stehen, aber im Kontrast mit anderen Lebensentwürfen erhalten sie zusätzlich Gewicht.

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Die Frauen, denen Helke Misselwitz begegnet, erzählen erstaunlich freimütig von Partnerschaft und Ehe, von Familie und Kindern, ihrem Arbeitsalltag und ihren persönlichen Träumen. Behutsam und nie beurteilend fragt die Regisseurin nach und entwirft mit ihren Interviews (Glossar: Zum Inhalt: Talking Heads) ein Bild der DDR-Gesellschaft, das nichts beschönigt, aber auch nicht direkt anklagt. Die schwarz-weißen (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung) Bilder von Thomas Plenert betonen diesen Ansatz. Seine Kamera lässt sich oft Zeit, erkundet Gesichter oder Räume. Doch immer wieder wird der nüchterne Stil des Films von assoziativen Zum Inhalt: Sequenzen unterbrochen, die zur Diskussion stellen, was es bedeutet, als Frau (in der DDR) zu leben: Beiläufig wird beispielsweise der Blick auf einen Schaukasten mit Theaterankündigungen gelenkt, die "Frauenglück" von Franca Rame und Dario Fo bewerben. In einer Leipziger Puppenklinik gleitet die Kamera (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen) über die Köpfe und Körper der Mädchenpuppen, die in Regalen lagern. Und den 16-jährigen Punk-Mädchen Anja und Kerstin, die Misselwitz unter einer Bahnbrücke trifft, wird ein schöner Schwan entgegensetzt, dem die beiden mit stachelig toupierten Frisuren so gar nicht entsprechen.

Ein Film aus der DDR – gestern und heute

30 Jahre ist es her, dass "Winter adé" beim Leipziger Dokumentarfilmfestival erstmals gezeigt und vom Publikum gefeiert wurde. Was die Situation der Frauen betrifft, zeigt der Film erstaunliche Parallelen zur Gegenwart, etwa wenn die Protagonistinnen von ungleicher Bezahlung und wenigen Frauen in Führungspositionen oder von den finanziellen und sozialen Nöten als alleinerziehende Mutter erzählen. Doch kann ein heutiges Publikum, vor allem, wenn es die DDR selbst nicht erlebt hat, noch die im Film enthaltene Systemkritik herauslesen wie die Zuschauenden damals? Dass Menschen in einem autoritären Staat sich so offen vor der Kamera zeigten, war neu und aufregend. Bei Vertretern des DDR-Fernsehens stieß der Film dagegen auf Widerstand, eine Ausstrahlung fand erst Ende November 1989 statt. Der Regisseur Andreas Dresen ("Sommer vorm Balkon" , DE 2005) erzählte dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel 2014 von der dringlichen Wucht, die dieser Film auf ihn hatte, als er ihn 1988 in Leipzig sah. "Winter adé" erlebte er als "Sittengemälde eines Landes, in dem man spürt, dass bald eine große Erschütterung eintreten wird". Helke Misselwitz findet zusammen mit ihrem Kameramann Bilder dafür, die "zwischen den Zeilen" gelesen werden müssen. Oft sind im Film Gleise zu sehen. Gleise, auf denen Züge in der Spur bleiben, die gewechselt werden können und die manchmal ins Nichts zu führen scheinen. Der Film endet mit der Abfahrt einer Fähre aus einem nebelverhangenen Hafen. Ein Aufbruch ins Ungewisse. "Jeder in der DDR", so Dresen "konnte diese Filme dechiffrieren". Das titelgebende Lied "Winter adé" besingt den Abschied von der dunklen Jahreszeit und begrüßt den Frühling.

DEFA Stiftung/Thomas Plenert

Politische Ideale und gesellschaftliche Realität

"Winter adé" spürt das Spannungsverhältnis zwischen politischem Ideal und realem Alltag in der DDR auf. Die staatliche Gleichstellungspolitik, das Ziel der emanzipierten Frau, die sich im Beruf behauptet, Kinder großzieht und sich gesellschaftlich engagiert, geht in der Umsetzung nicht immer auf. Bei einer Preisverleihung stellt die Berliner Werbeökonomin Hiltrud Kuhlmann "erschrocken" fest, dass fast nur Männer im Saal sind. Die Arbeiterin in der Fischfabrik klagt über die Doppelbelastung von Beruf und Haushalt. Den Internationalen Frauentag am 8. März, der in der DDR traditionell groß gefeiert wurde, präsentiert Misselwitz als öffentliche Inszenierung: In einem Fernsehbeitrag sitzen die Genossenschaftsbäuerin, die Wissenschaftlerin, die Baggerführerin neben – ausschließlich – männlichen Parteifunktionären, denen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als den Frauen an ihrem Ehrentag. Sie sind Staffage – so wie die Schaufensterpuppen, die im Anschluss gezeigt werden.

"Winter adé" gewährt ungewöhnliche Einblicke in Arbeits- und Lebenswelten von Frauen in der DDR, die dem offiziellen sozialistischen Gesellschaftsbild sicher nicht immer entsprochen haben – etwa weil sie geschieden oder mit ihrer Lebenssituation unglücklich waren oder wie die beiden Punkmädchen aufbegehrten. Helke Misselwitz erzählt von einem Land, das es nicht mehr gibt. Die Lebensgeschichten der Frauen mit all ihren Hoffnungen und Sorgen sind zwar von gestern, erscheinen aber 40 Jahre später in der bundesdeutschen Gegenwart noch immer aktuell.

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