Dr. Bärbel Wohlleben ist Psychologin und stellvertretende Vorsitzende des Vereins Autismus Deutschland, Landesverband Berlin e.V.

kinofenster.de: Der Film Zum Filmarchiv: "Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann" porträtiert junge Menschen mit Autismus. Inwiefern stehen diese für andere Autist/-innen?

Dr. Bärbel Wohlleben: Beim Autismus haben wir es mit einem Spektrum zu tun: von Menschen, die intellektuell und sprachlich sehr fit sind bis hin zu solchen, die weder sprechen noch Sprache verstehen können und geistig beeinträchtigt sind. Dazwischen gibt es alle Abstufungen. Die im Film gezeigten Menschen gehören zu den Nichtsprechenden, die trotzdem über die Sprache Wissen aufnehmen und umsetzen können. Ich war sehr überrascht, dass die Protagonist/-innen Ben und Emma zwar mit Buchstabiertafeln, aber ansonsten deutlich ungestützt schrieben – also ohne eine andere Person, die ihnen beim Buchstabieren einen motorischen Impuls von außen gibt. Das ist bei vielen Menschen mit Autismus notwendig.

kinofenster.de: Wie gut zeigt der Film die Wahrnehmungswelt von Autist/-innen?

Dr. Bärbel Wohlleben: Der Film setzt das sehr gut um, was der japanische Autist Naoki Higashida in seinem zugrunde liegenden Buch The Reason I Jump beschreibt. Er zeigt auch die veränderte Wahrnehmung – wie stark autistische Menschen Details wahrnehmen – also all das, was bei uns Neurotypischen in den Hintergrund gerät. Fittere, die gut sprechen und kommunizieren können, berichten uns das Gleiche. Manche haben sogar eine Hochbegabung.

kinofenster.de: Welche Herausforderungen erleben die Menschen in ihrem Alltag?

Dr. Bärbel Wohlleben: Bei vielen entsteht schnell eine Reizüberflutung – durch Licht, akustische Reize, Veränderungen, andere Menschen oder Berührungen. Das kommt im Film gut zur Geltung. Hinzu kommen Probleme bei der Handlungsplanung. Wenn autistische Kinder zum Beispiel unter einer Tischplatte durchkriechen wollen, stoßen viele mit dem Kopf dagegen. Oder sie weichen einer auf sie zukommenden Schaukel nicht aus, weil sie nicht abschätzen können, wie schnell diese auf sie zukommt. Auch im Straßenverkehr ist das ein großes Problem.

kinofenster.de: Welche Vorurteile gibt es in Bezug auf Autismus?

Dr. Bärbel Wohlleben: Viele denken, Autist/-innen seien gefühlskalt oder nicht empathisch. Wenn sie nicht sprechen können, gelten sie automatisch als geistig behindert – was einfach nicht stimmt. Sich in das Denken und Fühlen anderer hineinzudenken, fällt jedoch auch nicht geistig behinderten Menschen mit Autismus schwer. Wenn wir Neurotypischen sehen, wie jemand weint, wissen wir sofort: Da ist etwas passiert. Jemand hat sich weh getan, eine schlechte Nachricht erhalten oder Ähnliches. Autist/-innen muss man das oft erklären. Andererseits verstehen viele Neurotypische nicht, wenn ein autistisches Kind total ausrastet, weil es auf der Treppe aus Versehen angerempelt wird. Was wir oft als nur leichte Berührung wahrnehmen, empfindet diese Person möglicherweise als massiven Angriff.

kinofenster.de: Inwiefern prägen Filme und Serien das allgemeine Bild von Autismus?

Dr. Bärbel Wohlleben: Autismus wird leider zu oft mit dem IT-Nerd gleichgesetzt, der ganze Baupläne von Computern im Kopf hat. Das ist aber eine einseitige Darstellung. Ja, es gibt solche Menschen. Wenn in einer Krimiserie wie "Der Alte" der autistische Ermittler Lenny seine Stifte sortiert, ist das ein Einzelbeispiel. Auch die in Zum Filmarchiv: "Rain Man" (Barry Levinson, USA 1988) von Dustin Hoffman verkörperte Titelfigur mit seinem Blick für die genaue Zahl vieler Streichhölzer ist nur ein Beispiel. Wenn Sie einen Autisten kennen, kennen sie einen, aber nicht alle. Den Autisten schlechthin gibt es nicht.

kinofenster.de: Wie gut gelingt die Inklusion von Menschen mit Autismus im Bereich der Bildung?

Dr. Bärbel Wohlleben: Sie wird zunehmend schwieriger. Um Autist/-innen gut zu integrieren, bräuchten die Kinder mehr Unterstützung. Dafür fehlt jedoch das Geld, viele Lehrende sind dafür nicht gut ausgebildet, die Klassen werden größer, die Räume dadurch zu klein. Situationen wie Pausen, in denen es laut und unstrukturiert zugeht, sind für Autist/-innen ein Horror. Wenn es dann kein ruhiges Plätzchen gibt, zum Beispiel in der Schulbibliothek oder in einem anderen Raum, scheitert die Integration leider oft.

kinofenster.de: Wie kann Ihr Verein die Situation von Betroffenen verbessern?

Dr. Bärbel Wohlleben: Wir beraten, fördern, informieren und klären auf. Zum Beispiel betreiben wir eine Beratungsstelle für Eltern und Einzelfallhelfer/-innen zum Erziehungsalltag. Es gibt zwei Frühfördergruppen für insgesamt 16 Kinder, die nicht in eine normale Kita gehen können, aber die wichtige Gelegenheit zum sozialen Lernen brauchen und ein ambulantes therapeutisches Angebot für Kinder und Jugendliche. Für 18 Erwachsene mit erhöhtem Betreuungsbedarf haben wir eine Wohneinrichtung. Für 32 fittere Autist/-innen, die zum Teil arbeiten gehen oder in Ausbildung sind, gibt es Plätze für betreutes Einzelwohnen. Für unsere Erwachsenenberatungsstelle haben wir aktuell leider keine Finanzierung mehr.

kinofenster.de: Wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf?

Dr. Bärbel Wohlleben: Bei der Versorgung von Jugendlichen und Erwachsenen. Es nützt uns nichts, wenn wir die Menschen mit der Frühförderung in die Schulen bringen, diese aber später in ein Loch fallen, wenn die Anforderungen an ihre Sozialkompetenz wachsen. Auch für schwerer Behinderte gibt es zu wenig Plätze. Wir bräuchten dringend eine Zwischenform beim Wohnen. Hier in Berlin scheitert das leider an bezahlbarem Wohnraum. Außerdem gibt es nicht genügend diagnostische Kapazitäten. Viele fittere Autisten werden nicht erkannt – Mädchen noch weniger als Jungen.

kinofenster.de: Wie kann der Film "Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann" dazu beitragen, dass Betroffene anders wahrgenommen werden?

Dr. Bärbel Wohlleben: Ich fand es toll, dass der Film die Perspektive von Kindern und Jugendlichen aus verschiedenen Ländern zeigt, zum Beispiel die des Mädchens aus Sierra Leone, das von ihren Nachbarn als Hexe angesehen wird. Auch hierzulande denkt Otto Normalbürger meist, dass Menschen, die sich komisch verhalten, Idioten sein müssen. Früher wurden autistische Kinder nur in weißen, wohlhabenden Familien als solche diagnostiziert, weil nur diese Familien eine Spezialklinik aufsuchen konnten. Heute versorgen wir in unserem Verein sehr viele Familien aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Wir sind für Menschen aus allen sozialen Schichten offen.