Der Film hat in den mehr als hundert Jahren seit seiner Erfindung unsere Sicht auf die Welt drastisch erweitert und verändert. Filme bestimmen erhebliche Teile des Freizeitverhaltens von Kindern und Jugendlichen. Viele Institutionen und Projekte fördern zwar in zunehmend stärkerem Maße die Begegnung von Schülern/innen mit narrativem Film, auch die bpb hat als Filmklassikerinitiative einen herausgegeben, an dem auch Volker Schlöndorff mitgearbeitet hat. Meist werden in erster Linie jedoch Produktionen jüngeren Datums zur Filmbildung herangezogen. Eine Untersuchung der Universität Bremen zu Spielfilmwissen – Spielfilmdidaktik – Spielfilmnutzung mit dem Abiturjahrgang 2006 kommt, vor allem im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, zu folgenden Ergebnissen: Selbst Schüler/innen mit allgemeiner Hochschulreife verfügen häufig nicht einmal über ein filmgeschichtliches Basiswissen. Sie kennen Werke von Friedrich Schiller, Thomas Mann oder Johann Wolfgang von Goethe, aber Filme von Fritz Lang, François Truffaut oder Alfred Hitchcock sind ihnen unbekannt.

Vorläufer beliebter Genres

Die Arbeit mit wertvollen Filmproduktionen jenseits der aktuellen Kinostarts ist ein Vermittlungsbereich, der pädagogisch unter anderem auch wegen Fragen der Verfügbarkeit und der Rechtessituation noch wenig erschlossen ist. Filmgeschichtliches Wissen ist jedoch eine wichtige Matrix zum Dekodieren neuer Filme und tieferem Verständnis einer Kunstform. Bei Schülern/innen beliebte Genres haben, wie auch literarische oder bildnerische Erzeugnisse, ihre Vorläufer in der Filmgeschichte: Beispielsweise sind Abenteuerfilme oder Musicals die "Ahnen" von den heute bei Jugendlichen so beliebten Action- oder Bollywoodfilmen. Spezialeffekte wurden seit der Erfindung des Kinos entwickelt und sind kein modernes technologisches Phänomen. Das Kennen lernen solcher Zusammenhänge führt zu einem differenzierten Verständnis der Kunst- und Kulturform Film, aber auch von zeit- und gesellschaftsgeschichtlichen Bezügen.

Desinteresse an Filmklassikern?

Dass viele Schüler/innen dem Einsatz von Filmklassikern im Unterricht noch immer mit einem gewissen Desinteresse begegnen, liegt natürlich auch darin begründet, dass diese vordergründig wenig mit ihren Lebenswelten und Sehgewohnheiten zu tun haben. Pädagogen/innen können hier vermitteln, dass – genau wie das Erbe aus Literatur, Theater, Kunst und Musik – auch das filmische Erbe verdient, wahrgenommen und rezipiert zu werden. Es besteht eine vielfältige und spannende Reihe von Möglichkeiten, Filmklassiker in den Unterricht zu implementieren, Berührungsängste abzubauen und Lust auf wunderbare und unvergessliche Filmerlebnisse zu machen.

Filmklassiker als Kulturerbe

Die Filmkunst als jüngste unter den Künsten vermag es, andere Darstellungsformen wie Schauspiel, Musik, Literatur, Architektur zu integrieren. Zugleich ist sie eine Kunstform mit eigener Sprache, Grammatik, geschichtlichen Entwicklungen, Epochen, Tendenzen und Genres. Film als "Neuschöpfung der Welt", wie der Filmtheoretiker André Bazin das herausragende Merkmal des Films beschreibt, hat in seiner über 100-jährigen Geschichte große Künstler/innen, auch deutscher Herkunft, hervorgebracht. Vergleicht man Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm "Faust" (D 1926) mit Johann Wolfgang von Goethes wortgewaltigem Drama Faust (1790) so ist gerade die unterschiedliche mediale Umsetzung des auf einer Volkserzählung basierenden Stoffes faszinierend. (Bewegte) Bilder haben zudem einen besonders starken Erinnerungs- und Wiedererkennungswert, der sich in das kulturelle Gedächtnis einprägt. Dazu muss man den Schülern/innen jedoch die Chance geben, Filmklassiker und die dazugehörigen Künstler/innen kennenzulernen.

Filmklassiker als Zeitreise

Film hat zudem den ungeheuren Vorzug, dass er sich durch seine Darstellungsmittel wie Ellipsen und Montage frei in Zeit und Raum bewegen kann und diese Dimensionen neu verknüpfen kann. Wer wünscht sich nicht, durch die Jahrhunderte zu reisen? Mit Hilfe von Spielfilmen können antike Epochen – beispielsweise die Zeit des Römischen Reichs in "Ben Hur" (William Wyler, USA 1959) – ebenso "auferstehen" wie die jüngere Vergangenheit. Volker Schlöndorff lässt in Zum Filmarchiv: "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" (BRD 1975) die vom Terror geprägte Atmosphäre in der Bundesrepublik der 1970er-Jahre lebendig werden. Im Vergleich zur gleichnamigen Erzählung von Heinrich Böll ist die Filmadaption emotionaler und vermittelt dem Publikum das Gefühl, in die Zeit "einzutauchen". Der stark motivierenden Gefühlskraft des Spielfilms können dokumentarisches Material und historische Quellen entgegengesetzt werden, die das Unterrichtserlebnis vertiefend abrunden und stärker im Gedächtnis der Schüler/innen verwurzelt bleiben werden, als es die reine Beschäftigung mit Textquellen zu erreichen vermag.

Filmklassiker als Matrix

Ein Film ist, entgegen mancher Vermutung, keine "tabula rasa". Jeder Film baut auf der Filmgeschichte auf, setzt etablierte Konventionen fort, verändert sie, führt sie ad absurdum oder kreiert, mit Blick auf bisher geltende, neue Erzähl- und Darstellungsformen. Zudem werden in vielen zeitgenössischen Werken Filmklassiker auch direkt zitiert und persifliert, beispielsweise in Filmen von Quentin Tarantino oder Baz Luhrman. Filmgeschichtliches Wissen spielt dabei eine vergleichbare Rolle wie in der Kunst- oder Literaturgeschichte: Ohne Grundlagenkenntnisse bleibt das Verstehen, die Interpretation, schwierig. Einige Beispiele aus der filmpädagogischen Praxis: Schüler/innen einer 7. Klasse äußerten ihre Begeisterung für "Van Helsing" (Stephen Sommers, USA, Tschechien 2004), den sie privat im Kino gesehen hatten. Dieser moderne Horrorfilm wurde mit den Klassikern Zum Filmarchiv: "Nosferatu" (F.W. Murnau, D 1922) und "Frankenstein" (James Whale, USA 1931) verglichen. Die Schüler/innen waren nicht nur erstaunt darüber, wie viele Anleihen der moderne Horrorfilm bei den Klassikern getätigt hatte, sondern fanden gerade die langsamere Erzählweise und die eindrucksvollen Bildkompositionen in Schwarz-Weiß faszinierend. Die alten Filme bereiteten ihrer Ansicht nach, trotz sparsamer Action, ethische Fragen ("Klontechniken", Umgang mit Seuchen) interessanter und tiefgehender auf. Schüler/innen einer 4. Klasse, die sich beide Versionen von "Charlie und die Schokoladenfabrik" (, Tim Burton, USA 2005; "Willy Wonka & the Chocolate Factory" , Mel Stuart, USA 1971) im Vergleich angesehen hatten, waren überwiegend der Meinung, dass sie die Fantasiewelten in der alten Version schöner fanden, da man "hier noch sehen konnte, wie die Tricks gemacht werden."

Filmklassiker als Brücke zwischen den Generationen

Filme aus anderen Jahrzehnten bieten nicht nur die Möglichkeit, Umgangsformen, Konventionen und sozialpolitische Hintergründe ihrer Entstehungszeit zu begreifen, sondern sie ermöglichen es auch, mit älteren Menschen, die diese Zeit erlebt haben, ins Gespräch zu kommen. In einer Projektveranstaltung wurde beispielsweise die filmische Darstellung von US-amerikanischer und deutscher Jugendkultur der 1950er-Jahre in Ost und West verglichen. Die gesichteten Filme waren "... denn sie wissen nicht, was sie tun" ("Rebel Without a Cause" , Nicolas Ray, USA 1955), "Die Halbstarken " (Georg Dressler, BRD 1956) und "Berlin – Ecke Schönhauser" (Gerhard Klein, DDR 1957). Zwischen den anwesenden Zeitzeugen/innen und den Schülern/innen entspann sich anschließend eine fruchtbare "altersübergreifende" Diskussion über Jugend und Jugendkulturen. So kann eine Brücke zwischen den Generationen geschlagen und ein Dialog in Gang gesetzt werden, der durch das gemeinsame Sehen von Filmen initiiert wird.

Weites Spektrum an Möglichkeiten

Dies sind nur einige wenige Beispiele, wie Filmklassiker im Unterricht eingesetzt werden können. Darüber hinaus gibt es ein weites Spektrum an Möglichkeiten, mit stilbildenden Werken der Filmgeschichte Lerninhalte zu vermitteln. Schüler/innen können:

- die gezeigten Filme in die Filmgeschichte einordnen
- Filmgenres klassifizieren (Literaturverfilmung, Western, Musical, Krimi, Science-Fiction, Horrorfilm etc.) und Stilrichtungen kennen lernen
- bedeutende Filmschaffende (Regisseure/imnnen, Schauspieler/innen etc.) kennen lernen
- filmische Stilmittel in Bezug auf die jeweilige(n) Filmepoche(n) analysieren
- Filmvergleiche (interdisziplinär) herstellen
- Verbindungen (u. a. sozialpolitisch, historisch, genderbezogen, rezeptiv) zur Entstehungszeit des Films herstellen
- Produktionsländer und Produktionsbedingungen sowie Besonderheiten der jeweiligen Entstehungszeit kennen lernen

Filmklassiker motivieren, weil sie Bildung abwechslungsreicher machen. Als Sehschule können sie den geistigen Horizont kognitiv, ästhetisch und emotional erweitern – auch wenn manche Schüler/innen zunächst mit Vorbehalten auf diese "alten" Filme reagieren. Aber genau wie für andere Künste gilt auch hier: Es gibt keine alten Filme – es gibt nur gute oder schlechte Filme. Und die guten sind zeitlos faszinierend, man muss sie nur kennen und sehen lernen.

Literaturhinweis
Kepser, Matthis (Universität Bremen): Spielfilmwissen - Spielfilmdidaktik – Spielfilmnutzung. Abiturjahrgang 2006. Projektskizze, Bremen 2006

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