"Homo Faber" , Zum Filmarchiv: "Die Blechtrommel" oder "Tod eines Handlungsreisenden" sind literarische Stoffe, die im Unterricht behandelt werden. Werden auch Ihre Verfilmungen angeschaut?

Aber ja. Ich bekomme täglich Briefe von Lehrern, die meine Filme im Unterricht zeigen, aber auch von vielen Schülern, die sich lieber meine Filme auf DVD ansehen, anstatt einen dicken Roman durchzulesen. Das ist eine verblüffende Entwicklung. Lesen ist nicht mehr "in", sondern das Audiovisuelle. Für viele Schüler ersetzt der Film die Lektüre. Als ich vor 40 Jahren zum ersten Mal Literatur verfilmt habe – "Der junge Törless" – war das überhaupt nicht meine Absicht (lacht).

Andererseits sind Ihre Filme deshalb heutigen Schülern präsent, die ja häufig kaum Filmklassiker kennen.

Ich empfinde es als sehr zweischneidig, dass ich so unglaublich präsent bin in den Schulen. Selbst ein in meinen Augen misslungener Film wie "Michael Kohlhaas" wird von einem Schulbuchverlag als DVD vertrieben. Das mag zwar einerseits für den Film öffnen – ich habe selbst eine 17-jährige Tochter, die auf dem Umweg über meine Filme ihre Deutsch- und Englischarbeiten erledigt –, aber das ist natürlich nicht der Sinn von Literaturverfilmungen. Die Filmsprache selbst wird, im Gegensatz zu Frankreich, selten unterrichtet: Wie kann man Bilder analysieren, Schnittfolgen, den Einsatz von Musik, den dramatischen Erzählbogen eines Films? Literaturanalyse ist etwas Selbstverständliches, Filmanalyse dagegen nicht. Film müsste eigentlich ein Unterrichtsfach sein, aber das ist er nicht.

Woran liegt das?

Es fehlt absolut der politische Wille, es durchzusetzen. Bei uns gehört Film, im Gegensatz zu Frankreich, nicht zur Kultur, nicht zum Bildungswissen. Das spiegelt sich auch in den Kinobesuchen wider: Anspruchsvollere Filme, Arthouse-Filme, haben unendlich viel weniger Zuschauer als in den umliegenden europäischen Ländern. Es gibt sehr engagierte Lehrer und Filmkunsttheaterleiter, die die Besuche solcher Filme sozusagen auf eigene Faust vorantreiben. Das ist wichtig, denn Bilder sind viel präsenter als Literatur und ganze Gesellschaften funktionieren nur über das Audiovisuelle.

Sie sind sehr früh zum Film gekommen, haben bereits mit 21 Jahren als Assistent von Louis Malle gearbeitet. Gab es für Sie ein filmisches "Initiationserlebnis"?

Wahrscheinlich so etwas wie "Bambi" , das Feuer im Wald, die Tiere, das alles hat mich als Kind sehr beeindruckt (lacht). Später waren mir Filme von Elia Kazan mit Marlon Brando ganz wichtig, "Die Faust im Nacken" , "Endstation Sehnsucht" , dann auch französische Krimis wie "Rififi" . In meiner Jugendzeit war jeder Kinobesuch eine Entdeckungsreise in eine andere Kultur, denn in der Nachkriegszeit kannten wir nur den deutschen Kulturraum. Dann kam der Traum, in einem solchen Beruf zu arbeiten. Ich habe zu dieser Zeit bereits in Paris gelebt und habe dann angefangen, mir systematisch in der Cinémathèque française Filme anzuschauen.

Was haben Sie dabei gelernt?

Es war eine Entdeckung zu sehen, dass in frühen Stummfilmen die Kamera immer fest auf einem Stativ stand. Als die Kamera in den 1920er-Jahren erstmals bewegt wurde – von entfesselter Kamera hat man damals gesprochen –, war das eine Sensation. Wie weit konnte ein Filmemacher gehen, ohne dass das Publikum die Orientierung verliert? Es war spannend, alle diese Spielregeln, die Syntax, die sich im Zusammenspiel zwischen dem Publikum und den Filmemachern entwickelte, nachzuvollziehen. So entstand eine Filmsprache, die bis zur Nouvelle Vague gültig war. Dann kam Godard, nahm die Kamera auf die Schulter, verschnitt Einstellungen so miteinander, dass die Kontinuität von Zeit und auch die Orientierung im Raum aufgehoben wurden. Von da an war die ganze alte Syntax, die man sich erarbeitet hatte, nichts mehr wert. Dieses Wissen hilft einem auch, heutige Filme und die Sehgewohnheiten des Publikums besser zu verstehen. Es hat sich sehr eingeprägt und deshalb haben Regisseure meiner Generation immer noch dieses Bewusstsein, dass jede Einstellung etwas Besonderes ist.

Ihre Filme beziehen sich häufig auf konkrete historische Ereignisse und sind politisch. Zum Filmarchiv: "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" spielt beispielsweise vor dem Hintergrund der RAF-Fahndungen in den 1970er-Jahren. Dennoch wirkt der Film über diesen Zeitkontext hinaus aktuell.

Der Film war damals aus der Terror-Hysterie geboren. Aber er sollte, da war ich mir mit Heinrich Böll einig,

Heinrich Böll und Volker Schlöndorff

Kinowelt

keine kurzlebige Polemik gegen die Springer-Presse oder die Polizeistaat-Hysterie sein. Katharina Blum ist ja eine überlebensgroße Figur, wie eine Madonna. So jemanden gibt es nur in der Welt von Böll. Also wollten wir den Film so machen, dass er über die Zeitbezüge hinaus Bestand hat. Deswegen erzählt er von der Einsamkeit eines eher bescheidenen Menschen, für den die Ehre aber umso wichtiger ist. Und das was heute standhält, ist diese Figur der Katharina Blum, diese Erfindung von Heinrich Böll. Was daran Zeitgeist war, tritt in den Hintergrund.

Ehre, Gewissen oder Integrität sind zentrale humanistische Themen in vielen Ihrer Filme. Was interessiert Sie daran?

Es ist immer eine Suche nach der Frage: Wie lebe ich richtig? Wenn jemand falsch lebt, fühlt er sich unglücklich und gescheitert. Nur das richtige Leben führt zur Zufriedenheit. Die Filme, die ich mache, handeln von Personen, die sich diese Frage stellen. Das klingt jetzt etwas abgehoben, denn natürlich will ich auch eine außergewöhnliche Geschichte erzählen: Diese Katharina Blum, die auf dem Karneval mit einem Mann flirtet und dann in eine unglaubliche Geschichte hineingerät, oder der Junge, der nicht wachsen will, bei Günter Grass. Diese Literaturverfilmungen haben ja nur stattgefunden, weil das Buch eine außergewöhnliche Geschichte erzählt.

Zum Filmarchiv: "Die Blechtrommel" war der erste deutsche Film, der einen Oscar® gewann. Was hat Sie damals an dem Stoff gereizt?

David Bennent, Günter Grass, Volker Schlöndorff

Kinowelt

Anfang der 1970er-Jahre standen wir alle unter dem Druck der Vergangenheitsbewältigung. Es war sehr einschüchternd, überhaupt Nazis darzustellen. Und da war Zum Filmarchiv: "Die Blechtrommel" der große Befreiungsschlag. Das war mir gar nicht so bewusst, bis ich anfing, daran zu arbeiten. Denn hier wird alles als Groteske dargestellt. Aus den Augen dieses Kindes konnte man sich plötzlich sämtliche Freiheiten erlauben, Karikaturen darstellen, Grausamkeiten zeigen. Man war nicht mehr auf die behutsam protestantische Art im Umgang mit der Vergangenheit fixiert, sondern konnte sie auch wie einen bösen Albtraum darstellen, wie eine Schmierenkomödie.

Inwiefern haben Sie bei Ihren Literaturverfilmungen mit den Romanautoren zusammengearbeitet?

Anfangs hat man den Hochmut zu sagen, ich kann das besser als der Autor. Oder: Ich kann das ohne den Autor besser. Zum ersten Mal mit einem Autor wirklich zusammengearbeitet habe ich mit Heinrich Böll. Als wir einzelne Szenen durchgesprochen haben, habe ich festgestellt, dass das, was er über seine Figuren wusste, weit über das hinausging, was ich aus dem Buch herauslesen konnte. Dazu war Böll noch sehr umgänglich, unerbittlich allerdings, wenn es um den Inhalt ging. Das war für mich der Durchbruch. Mittlerweile fühle ich mich am wohlsten, wenn ich mit einer literarischen Vorlage oder einem Autor arbeiten kann. Obwohl meine letzte Literaturverfilmung – "Der Unhold" – bereits zehn Jahre zurückliegt. Vielleicht habe ich ja auch abgearbeitet, was mich in der Literatur umgetrieben hat.

Die Literatur hat einen wichtigen Stellenwert in Ihrem Leben. Mit Max Frisch waren Sie befreundet, Sie lesen viel und haben in Ihrer Autobiografie eigenes literarisches Talent bewiesen. Warum wollten Sie Regisseur werden und nicht Schriftsteller?

Was mich am Film gereizt hat, ist die Teamarbeit, mit anderen zusammen zu sein. Man hat das Gefühl, mitten im Leben zu stehen, ist immer auf Entdeckungsreise, fährt in andere Länder und lernt eine ganz andere Art von Menschen kennen. Ich lese gerne, aber selbst bin ich eher jemand, der Dinge inszeniert. Ich habe immer den Hang gehabt, mit Schauspielern zu arbeiten, die Dinge darzustellen.

Sie haben mittlerweile mehr als 30 Filme inszeniert, darunter große Erfolge, aber auch Flops. Wie gehen Sie mit Misserfolgen um?

Jeder Film ist auch ein Experiment. 1961 war ich Assistent bei Alain Resnais in "Letztes Jahr in Marienbad" . Da habe ich mich schon beim Drehbuch gewundert, dass es da keine Geschichte gab, keine Kontinuität. Ich habe ihn gefragt: "Alain, warum machen Sie das überhaupt?" Und er hat geantwortet: "Na, ich bin mal gespannt, was da für ein 'Objekt' bei heraus kommt." Das hat mich in diesem Augenblick nicht so überzeugt, aber im Nachhinein hab ich den Satz nie vergessen. Also, im Zweifelsfall sage ich mir immer, irgendetwas hat dich mal daran gereizt. Also, bringe es fertig, um am Ende zu sehen, was kommt dabei für ein 'Objekt' heraus. Es wäre gelogen, zu sagen, dass wir gewusst hätten, was am Ende bei der "Blechtrommel" entsteht. Es war ein einziges Abenteuer von Tag zu Tag.

Sie feiern im März Ihren 70. Geburtstag, planen aber schon wieder Ihren nächsten Film. Worum soll es da gehen?

Im Augenblick plage ich mich mit dem Drehbuchautor Peter Schneider an einer Geschichte über ein schwer erziehbares Kind, das Lern- und Schreibschwierigkeiten hat,

Volker Schlöndorff in Potsdam

Ula Brunner

und einen Erwachsenen, der versucht, Pädagoge zu sein und mit ihm zu arbeiten. Es geht nicht um allgemeine Schulprobleme, sondern um die Auseinandersetzung damit, wie man jemanden etwas beibringen kann. Früher hatte ich eher eine gewisse Skepsis Bildung gegenüber, denn sie war ein Teil des Bürgertums, das man schließlich loswerden wollte. Deswegen ging man ja auch zum Film, der eine Trivialkunst war und gerade eben nicht zum bürgerlichen Kanon gehörte. Das ist jetzt ganz interessant, bürgerliche Tugenden in einem Pädagogen zu entdecken, zu sehen, wie er durch Disziplin und Systematik einem Jungen etwas beibringen kann. Aber wir sind erst auf Seite 27 (lacht). Man hat das noch gar nicht so richtig im Griff, die Personen, den Konflikt. Es ist ein dauerndes Tasten.