Kategorie: Filmbesprechung
"Die Blechtrommel"
Zum 70. Geburtstag von Katharina Thalbach (19.1.) und zum 80. von Angela Winkler (22.1.): Schlöndorffs Verfilmung des Romans von Günter Grass
Unterrichtsfächer
Thema
Adaption eines unverfilmbaren Romans
Danzig 1927: An seinem dritten Geburtstag beschließt Oskar Matzerath aus Ekel gegen die verlogene Erwachsenenwelt nicht mehr größer zu werden. Er stürzt sich die Kellertreppe hinunter und verharrt die folgenden 18 Jahre im Körper eines Kleinkindes, während er sich geistig weiter entwickelt und innerlich zu einem jungen Mann heranreift. Immer dabei: seine Blechtrommel, auf der er lautstark seinen Protest gegen Nazis und Mitläufer artikuliert. Erst nach Kriegsende ändert Oskar seine Meinung: Er will wieder wachsen, um fortan mitbestimmen zu können. "Die Blechtrommel" von Volker Schlöndorff ist einer der wichtigsten deutschen Filme der Nachkriegszeit und zählt auch international zum Kanon der großen Literaturverfilmungen (Glossar: Zum Inhalt: Adaption). Schon in seinem Erscheinungsjahr sorgte Schlöndorffs Film für Furore, weil die gleichnamige Romanvorlage (1959) von Günter Grass lange Zeit als unverfilmbar galt. In Cannes gewann "Die Blechtrommel" 1979 gemeinsam mit Francis Ford Coppolas Vietnamfilm "Apocalypse Now" (USA 1979) die Goldene Palme, ein Jahr später wurde er in der Kategorie "Bester fremdsprachiger Film" mit dem Oscar® ausgezeichnet.
Perspektive des Außenstehenden
Mit seinem Filmerfolg brachte Schlöndorff Deutschland zurück auf die Landkarte des Weltkinos – bezeichnenderweise mit einem Stoff, der sich mit der Zeit des "Dritten Reichs" auseinandersetzte. Schon Grass' autobiografisch gefärbter Roman nahm in der Literatur der Nachkriegsjahre einen besonderen Stellenwert ein: In einem Tonfall, der zwischen blumigen Sprachgebilden und magischem Realismus changiert, entwirft Grass ein deutsch-polnisches Geschichtspanorama und erzählt vom "Dritten Reich" aus der Sicht von Oskar Matzerath, einem lebenslangen Außenseiter, der das Geschehen beobachtet und kommentiert. Oskars kuriose Geschichte beginnt mit der Zeugung seiner Mutter auf einem polnischen Kartoffelacker, wo der Film auch enden wird. Mütterlicherseits entstammt seine Familie den Kaschuben, einer slawischen Volksgruppe, die weder bei den Polen noch den Deutschen besonders angesehen ist. Die Familie hat mit allerlei Entbehrungen zu leben und so sieht Oskar seiner eigenen Geburt voller Skepsis entgegen: Äußerst widerwillig (und eigentlich nur, weil er im Geburtskanal aufschnappt, dass er, wenn er alt genug ist, eine Blechtrommel bekommen soll) verlässt er den Mutterleib. Die Kamera nimmt dabei die Perspektive Oskars ein: Sie platzt blutig und von Fruchtwasser triefend ins Licht der Welt. Schlöndorff lässt von Beginn an keinen Zweifel, dass "Die Blechtrommel" Oskars subjektive Wahrnehmung der Welt beschreibt.
Politik und Sexualität
Die schlüpfrigen Passagen des Romans haben es Volker Schlöndorff dabei besonders angetan. Oskars Weg durch die Geschichte wird vorwiegend von seiner Libido geleitet, die ungewöhnlich regressive Formen annimmt. Sein Impuls, in den Leib der Mutter zurückzukehren, treibt seltsame Blüten. In einer Art ödipalen Zorn zersingt er mit seiner schrillen Stimme die Fensterscheiben, als er seine Mutter beim Schäferstündchen beobachtet. Und seinem Kindermädchen Maria, seiner ersten Liebe, springt er bei ihrem nackten Anblick an die Scham, als wolle er in sie hineinkriechen. Schlöndorff liebt diese derbe, burleske Symbolik, die Verbindung von politischer Verwahrlosung, Klassendünkel und schwitzender Sexualität. Doch anders als Visconti in "Die Verdammten" ("La caduta degli dei" , IT, BRD 1968), der ebenfalls nicht mit NS-Ikonografien geizt, zieht er eine schmutzig-graue Ästhetik barocker Opulenz vor. Oskars selbst gewählte Infantilität ist der verzweifelte Versuch, der schrecklichen "Infantilisierung" der deutschen Bevölkerung mit gleichen Mitteln beizukommen.
Ein Schelmenstück
Schlöndorff konzentrierte sich bei seiner Verfilmung auf die grotesken Aspekte der literarischen Vorlage, in der die Idee des klassischen Entwicklungsromans ad absurdum geführt wird, und betont so das Schelmenstückartige des Romans. In einer der berühmtesten Zum Inhalt: Szenen stört Oskar eine Nazi-Parade so lange mit seinem Trommeln, bis die Soldaten in den Rhythmus von "An der schönen blauen Donau" verfallen. Visuell orientierte sich Schlöndorff eher an den fast sozialrealistischen Passagen des Romans, was dem Film gerade in der Schilderung des kleinbürgerlichen Danziger Milieus, in dem Oskar aufwächst, eine bedrückende Atmosphäre verleiht.
Porträt eines leichtgläubigen Volkes
Mario Adorf verkörpert als Alfred Matzerath den Typus des Deutschen, der sich im blinden Begeisterungstaumel der aufkommenden nationalsozialistischen Bewegung hingibt, ohne die Konsequenzen abzusehen. Er sucht, wie viele Andere auch, Anschluss an eine Massenbewegung; nach dem Krieg aber weisen viele eine individuelle Schuld von sich. Oskar beobachtet das Tun der Erwachsenen mit zunehmender Ablehnung: die Oma, die mit den gesellschaftlichen Verhältnissen einverstanden ist, solange abends Kartoffeln auf dem Tisch stehen; den Gemüsehändler Greff, der mit seinen Pfadfindern Hitler-Jugend spielt, und den verrückten Musiker Meyn, der schließlich vorneweg trompetet, als die Nationalsozialisten Polen "heim ins Reich" holen. "Es war einmal ein leichtgläubiges Volk", sagt der neunmalkluge Junge, den der 12-jährige David Bennent mit intensiver Ernsthaftigkeit darstellt, als die ersten jüdischen Geschäfte brennen, "das glaubte an den Weihnachtsmann. Aber der Weihnachtsmann war in Wirklichkeit der Gasmann!"
Verfilmung politischer Stoffe
Volker Schlöndorff hatte sich mit seinen Literaturverfilmungen von "Der junge Törless" (BRD 1966), "Michael Kohlhaas " (BRD 1969), "Baal " (BRD 1970) und Zum Filmarchiv: "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" (BRD 1975) als Regisseur für "Die Blechtrommel" empfohlen. Unter den Autorenfilmern des Jungen Deutschen Films galt er als der Routinier: ein emsiger Arbeiter wie Rainer Werner Fassbinder, aber mit einem anderen Ansatz: Fassbinder machte, selbst wenn er Literaturvorlagen wie Effi Briest (Theodor Fontane, 1895) adaptierte, stets politische Filme; Schlöndorff hingegen verfilmte politische Stoffe. Seine Stärke lag im Reduzieren und Verdichten und so gelang es ihm auch, aus dem episodisch angelegten Mammutwerk von Günter Grass eine halbwegs lineare Handlung herauszuarbeiten. Grass selbst hatte darauf bestanden, die unfilmische Struktur seines Romans zu straffen. Schlöndorff verzichtete auf den Handlungsrahmen, auf einige Figuren sowie auf das gesamte dritte Buch, das den Bogen bis in die 1950er-Jahre schlägt. Sein Film endet mit der Flucht von Oskar und seiner Mutter in den Westen.
Ein Film seiner Zeit
"Die Blechtrommel" war einer der ersten Filme, der die deutsche Schuldfrage thematisierte und die Verstrickung des Kleinbürgertums in den Aufstieg der Nationalsozialisten ungeschönt schilderte. Als Auseinandersetzung mit dem "Dritten Reich" besitzt "Die Blechtrommel" heute nicht mehr denselben Stellenwert wie Ende der 1970er-Jahre, dafür war der Film zu sehr ein Kind seiner Zeit. Aufgrund seiner dramatischen Überzeichnung funktioniert der Film jedoch als Zeitporträt nur bedingt, da geben andere Filme, beispielsweise Deutschland bleiche Mutter (BRD 1980) von Helma Sanders-Brahms, tiefer gehende Einblicke in die Befindlichkeiten des deutschen Bürgertums jener Jahre. Doch der Versuch der schmerzhaften Selbsthinterfragung mit den Mitteln der politischen Farce war seinerzeit ungewöhnlich und unterschied sich in Tonfall und visueller Gestaltung gravierend von Fassbinders "Die Ehe der Maria Braun" (BRD 1979). Auch wenn "Die Blechtrommel" formal eher altmodisch wirkte, war der Film im Kern hochaktuell. In seiner Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit spiegelten sich zentrale Kritikpunkte der deutschen Linken jener Jahre wider, die sich im Flügel der Roten Armee Fraktion (RAF) bereits radikalisiert hatten. Nicht ganz zufällig hatten Schlöndorff und Fassbinder damals in rascher Folge sowohl Filme über den so genannten Deutschen Herbst wie etwa Zum Filmarchiv: "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" (BRD 1975) oder gemeinsam auch den Omnibusfilm "Deutschland im Herbst" (BRD 1978) als auch über das "Dritte Reich" gedreht. Kapitel der deutschen Geschichte, die ihrer Meinung nach unmittelbar miteinander verknüpft waren.